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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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Florian.
    » Erfolg ist wichtig. Und Selbstvertrauen und dass man alles irgendwie unter Kontrolle kriegt«, sagt Nina, die heute seltsam still ist.
    Alle nicken sich gegenseitig zu.
    » Und dass man aufeinander achtet. Hier ist das ja so. Ich habe hier zum ersten Mal das Gefühl, dass hier so Leute sind, mit denen ich klarkomme. Und die sich füreinander interessieren. Voll schön ist das.« Marie sieht ernsthaft begeistert aus. Sie strahlt Tanja an und tätschelt ihr Knie.
    » Das sind zum Beispiel alles Dinge, die wichtig sein können im Leben, Tanja. Hier haben Sie auf jeden Fall Menschen, die sich um Sie kümmern und sich für Sie interessieren. Und darüber werden wir uns auch beim nächsten Mal unterhalten. Das Thema wird sein: Wie achte ich auf mich und auf andere? Einen schönen Tag Ihnen allen.«
    Alle erheben sich und verlassen schweigend den Raum. Tanja geht als Erste und läuft schneller als die anderen. Niemand hat bemerkt, dass Andrea nicht in der Gruppe war.

Fünfundzwanzig
    D ie Tage vergehen im immer gleichen Rhythmus. Morgens aufstehen, Frühstück im Gruppenraum, Gruppen, Mittagessen, Gruppen, Abendessen, Schlaf. Fünf Tage die Woche, zwölf Stunden täglich. Dazwischen Gespräche, Einzeltherapie, die Imitation von Normalität in einem Raum der Abgeschiedenheit von allem, was ich bis dahin als normal empfunden hatte.
    In der » Selbstfürsorgegruppe« bringen wir Dinge mit, die uns wichtig sind. Wir sollen an diesen Dingen riechen, lauschen, sie ertasten, fühlen, wahrnehmen. Wir sollen wieder lernen, etwas » bewusst wahrzunehmen«, weil wir verlernt hätten, uns auf die Dinge zu konzentrieren, weil wir sie übergingen wie lästige Anhängsel unseres Alltags aus Sinnieren, Nachdenken und Sinnieren. Wir sollen lernen, bewusst zu atmen, bewusst zu fühlen, bewusst zu leben. Verstehen, dass es die Kleinigkeiten seien, die zu übersehen das » Große Ganze« zum Umstürzen gebracht hätten. Wir sollen wieder fühlen lernen und betrachten lernen, wir sollen wieder im Moment leben, auch wenn keiner so genau weiß, was das eigentlich bedeutet.
    Wir lernen, in den Bauch zu atmen, Yoga zu machen, autogenes Training. Wir lernen, wieder auf uns selbst zu achten, im Kleinen und im Großen, bei der Arbeit und im Bett. Wir lernen, Grenzen zu setzen, Nein zu sagen, wir lernen, Ja zu Gefühlen zu sagen und uns selbst so gern zu haben, als wären wir das Wichtigste auf der Welt. Wir lernen, dass wir genau das sein sollen: das Wichtigste auf der Welt. Wir lernen, die Welt zu lieben, die Tiere, die Pflanzen, den Kosmos.
    Ich sitze in den Gruppen und rieche an meinem Notizbuch. Ich lausche, ob mein Notizbuch mir etwas zu sagen hat. Es schweigt und riecht nach Notizbuch und Rauch. Ich fühle mein Notizbuch, ich ertaste mein Notizbuch, ich atme dabei in den Bauch. Nach diesen Gruppen möchte ich das Notizbuch für lange Zeit nicht mehr anfassen.
    Frau Wängler bestätigt Fortschritte, die sich darauf beziehen, dass ich weiterhin alle Sätze mit » ich fühle«, » ich empfinde«, » ich habe das Gefühl, dass« beginne und dabei darauf achte, Gefühle nicht mit Wertungen zu verwechseln, Meinungen nicht mit Verurteilungen. Immer mehr habe ich das Gefühl, mich nicht leer zu fühlen, sondern übervoll, so übervoll an auswendig gelernten Sätzen, Phrasen und Gefühlen, dass ich darunter verschwinde. Ich fühle mich nicht geheilt, sondern verzogen, nicht therapiert, sondern terrorisiert von den immer gleichen Aufforderungen, mich zu achten, mich zu lieben, andere zu lieben. Trotz oder gerade wegen der Anwesenheit von Emotionen, die meinen meistens entgegengesetzt sind.
    Ich bin nie allein. Isabell verbringt die meiste Zeit in unserem Zimmer, lesend und schreibend und Gespräche suchend, die ich immer öfter versuche zu umgehen. Ich will nicht mehr reden, ich will nicht mehr sprechen, ich will nicht über Gefühle, nicht über Befindlichkeiten, nicht über Vergangenes reden. Ich will unter meinem Bett verschwinden, zwischen den Monstern liegen und meinen Kopf rhythmisch auf den Boden hämmern, damit das Geräusch die Gedanken übertönt. Ich will Ruhe.
    Je kälter es draußen wird, desto mehr verschwinden wir in dem Käfig, der jetzt zu Hause ist. In die Zimmer, in die Betten, in unsere Köpfe aus Watte und Knallpapier.
    Der Gruppenraum füllt sich mit Herbst- und Winterdeko, die die anderen in der Ergotherapie gebastelt haben, ein weiterer Versuch, die Patienten wieder an die Anwesenheit der eigenen Hände zu gewöhnen

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