Drüberleben
ist?«
Fragen. Immer Fragen stellen, damit der Patient glaubt, selbst auf die Antwort gekommen zu sein. Immer Fragen stellen, Interaktivität fördern, Kommunikation zwischen allen ermöglichen, Austausch gestalten. Keine Monologe halten, sondern Dialoge erzeugen. Keine Vorgaben, sondern Empfehlungen. Keine Meinung, sondern Standpunkte haben. Nicht werten, sondern hinterfragen. Fragen, fragen, fragen.
» Ja, ja, ja. Bla bla bla. Wir gestalten unser Leben selbst, wir haben alles in der Hand, wir können entscheiden, in welche Richtung wir gehen. Herzlich willkommen beim kleinen Therapeuten-Einmaleins. 1. Lektion: Dem Patienten erzählen, es sei nicht das Leben, das Dreck auf ihn regnen lässt, sondern er selbst, der irgendwann irgendwie irgendwo irgendwas falsch gemacht hat«, blafft Simon Herrn Weimers an.
» In welchem Punkt haben Sie eine solche Äußerung von mir verstanden?«, fragt Weimers ruhig.
» In jedem Kommentar, den Sie in all den Stunden hier gemacht haben. Und in all dem Gelaber der anderen hier. Ständig dieselbe Leier. Wir sind für uns selbst verantwortlich, wenn wir etwas ändern, ändert sich auch der Rest. Bullshit. Es ändert sich gar nichts, nur weil sich jemand jetzt jeden Tag darüber freut, dass er ein scheiß Leben hat. Erzählen Sie das Ganze doch mal einem Obdachlosen. Sagen Sie dem, dass er das Gute in seinem Leben erkennen soll. Dass er sich selbst achten und lieben soll, während der da in seiner eigenen Kotze liegt. Wird dem sicher weiterhelfen.«
» Ich empfinde das als starke Verallgemeinerung.«
» Ich auch«, pflichtet Florian Weimers bei. » Ich habe hier zum Beispiel ganz viele wichtige Dinge gelernt. Und dass ich auch ganz schön viel falsch gemacht habe.«
» Ja, super, Florian, das wiederholst du dann bitte noch mal, wenn dir dein Vater das nächste Mal die Fresse poliert hat«, lacht Simon.
» Es reicht.« Walter erhebt sich und geht drohend einen Schritt auf Simon zu.
Herr Weimers erhebt sich ebenfalls und spricht ruhig aber bestimmt auf Walter ein. » Setzen Sie sich wieder. Hier wird niemandem gedroht. Und Simon: Sie verlassen jetzt die Gruppe. Augenblicklich. Wir werden nachher darüber sprechen. Und jetzt: Raus.«
Simon beginnt zu lachen, erhebt sich dann von seinem Platz und geht an Walter vorbei. Er schaut ihm grinsend in die Augen und verlässt dann den Raum. Die Tür fällt mit einem Knall hinter ihm zu. Walter setzt sich wieder und atmet laut ein.
» Bitte lassen Sie uns fortfahren und versuchen Sie, den Vorfall zu vergessen. Lassen Sie uns konstruktiv bleiben und darüber sprechen, welche Strategien Sie für geeignet halten.«
» Ich möchte mich nicht in den gleichen Worten wie Simon ausdrücken, aber ehrlich gesagt ist mir auch schon aufgefallen, dass das hier manchmal ein ganz schönes Theater ist. Ich meine, das ist ja alles schön und tutti hier, aber mal ehrlich, Leute: Ich weiß immer noch nicht, was ich beim nächsten Mal machen soll, wenn’s mir wieder so dreckig geht. Klar ist Familie wichtig und das alles, aber das ist doch alles nicht konkret hier«, sagt Tanja und blickt uns fragend an.
Marie antwortet als Erste.
» Nee, is klar, dass das nich so konkret is. Is ja auch nich möglich, is ja bei jedem anders, oder?«
» Ja, aber was nützt es mir, wenn Ida ihre Liste vorliest? Was kann ich daraus lernen?«
» Vielleicht ’n paar Ideen kriegen, was dir guttun könnte?«
Tanja schweigt.
Ich bin mir nicht sicher, ob ihr Gin Tonic, meine Postkarte aus Florenz oder Schnee helfen könnten. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob mir diese Dinge noch helfen können.
» Herr Weimers, ich möchte von Ihnen einmal konkret wissen: Was kann ich denn machen, wenn ich nicht mehr weiterweiß?«, wendet sich Tanja jetzt direkt an Herrn Weimers.
Weimers streichelt seinen Bart, scheinbar abwesend. Dann sagt er: » Ich möchte es einmal allgemein ausdrücken. Sie können sich etwas Gutes antun. Sie können sich Hilfe suchen. Sie können sich zum Beispiel immer an uns wenden. Sie können zu einem Arzt gehen oder zu Ihrem Psychiater. Aber noch einmal an die Gruppe gefragt: Was sind denn gute Strategien, die man ganz persönlich für sich nutzen kann?« Er sieht auf die Uhr. In fünf Minuten ist die Gruppe vorbei.
» Ich glaube ja, dass man Arbeit braucht. Arbeit und Perspektiven, und man muss ehrlich zu sich selbst sein«, sagt Walter.
» Freunde braucht man auch und dass sich jemand für einen interessiert, zum Beispiel die Familie«, ergänzt
Weitere Kostenlose Bücher