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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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haben, sich klüger, schneller und geschickter tarnen musste, als er es als Kind gekonnt hatte. Und er wählte ein kompliziertes Konstrukt aus Lügen und Ausflüchten, als Tarnung und als Höhle, in der ihn niemand fand– ohne sich darüber bewusst zu sein, dass er sich nur erneut versteckte und in einen weiteren, nicht enden wollenden Kampf verstrickt hatte, dessen Befehlshaber kein Fremder mehr, sondern er selbst geworden war.
    Wäre Simon auch unter anderen Umständen ein Lügner geworden? Ein Mensch, der gelernt hatte, sich zu schützen, indem er alleine blieb, indem er log und sich verkroch?
    Simon war es gewesen, der dem Oberarzt von Weimers’ angeblich » grenzüberschreitendem Verhalten« berichtet hatte. Und er war es gewesen, der sich danach eine Zigarette anzündete und darüber nachdachte, auf welche Weise er sich noch an Weimers rächen könnte. An Weimers und seinem Bart. An Weimers und seinen Hemden. An Weimers und dem ganzen verdammten Zufall seiner Ähnlichkeit mit dem Menschen, den Simon niemals wiedersehen wollte.
    Wäre Isabell ohne den Schmerz des Erlebnisses, das ihr widerfahren war, zu einem Menschen geworden, der schwankte zwischen dem Bedürfnis nach extremer Nähe und der Angst vor ebenjener? Wäre Isabell auch ohne die Erziehung ihrer Eltern, ohne die Schwierigkeit einer fehlenden Balance zwischen Vater und Mutter, zu dem Mädchen geworden, das sie heute ist? Hätte sie sich auch als Tochter ganz anderer Eltern in der Psychiatrie H. wiedergefunden, ein Mensch in all seinen Einzelteilen, nur noch zusammengehalten durch einen Klebstoff, den sie » Kunst« nannte und der im Grunde nichts anderes war als ein Bild von sich selbst, das noch in seiner Gänze bestand, während Isabell eigentlich längst in Trümmern lag?
    Isabell hatte sich entschlossen, mich zu warnen. Hatte mir von Simons Lügen erzählt und ihrer Angst vor genau diesen. Von der Angst, ihm zu nahe zu kommen, weil sie in ihm erkannte, was sie schon einmal in ihrem Leben zu genau kennengelernt hatte: die Macht eines Menschen, der strategisch log und dessen Willkür sie sich ausgeliefert fühlte. Simon hatte etwas in ihr reaktiviert, eine Erinnerung, ein Gefühl, das vorher vergessen gewesen zu sein schien und mit dem Gesicht dieses Jungen nun wieder aufgetaucht war. Hätte sie sich auch ohne ihre Erinnerungen, ohne ihre Erlebnisse am Ende dafür entschieden, mich zu warnen? Hätte sie Simon überhaupt erkannt ?
    Und Isabell hatte sich zu einem weiteren Schritt entschieden: Sie hatte um eine Verlängerung ihres Aufenthalts gebeten und sich im Verlauf dieses Gesprächs schließlich ihrer Therapeutin offenbart. Warum Isabell am Ende erst so spät von jenen Ereignissen ihrer Jugend gesprochen hatte, die sie am Ende fast zerbrochen hatten, hat sie mir nie erzählt. Vielleicht hatte es mehr mit dem Bild zu tun, das sie von sich hatte, als mit den Bildern, die sie malte.
    Das volle Ausmaß ihres Leidens war nun endlich zu etwas geworden, das die Therapeuten und den Oberarzt bewogen, Isabell die Zeit zu geben, die sie wirklich benötigte. Sie blieb in unserem Zimmer, und mit ihr blieb etwas anderes, das ich erst ein wenig später begriff: die Frage nach dem Wert von Erinnerungen, wenn sie am Ende nur das sind, was wir von ihnen (vor uns und vor den anderen) preisgeben wollen.
    Simon verließ einige Tage später die Klinik und hinterließ ebenfalls eine Frage, die sich vielleicht als Antwort geeignet hätte, wäre sie nicht so codiert gewesen, dass ich sie ebenso erst später als solche begriff: Sind unsere Erinnerungen und der Umgang mit ihnen nicht sogar ausschließlich das, was uns am Ende zu den Menschen macht, die wir sind?
    Gerne wird als Entschuldigung für unangebrachtes Verhalten die Veranlagung benutzt, für den Bruch mit dem, was gemeinhin als » Anstand« und » gutes Benehmen« bezeichnet wird. Aber immer mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass es am Ende nicht die Gene sind, nicht die biochemischen Prozesse, nicht die Hormone und nicht die Enzyme, sondern dass es unsere Erlebnisse und Erinnerungen sind, die aus alldem das formen, was am Ende Ida Schaumann ausmacht: die Erinnerungen, die dazu führen, dass ich spreche, wie ich spreche, dass ich fühle, wie ich fühle, dass ich Angst habe, wenn es eigentlich nicht angebracht wäre.
    Meine Biographie ist das Ich, das gleichzeitig jene formuliert, in jedem Augenblick meines Lebens, in jeder Sekunde meines Bewusstseins. Und ich kann nichts anderes tun, als dafür zu sorgen,

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