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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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Frau Schaumann. Ida, wie haben Sie sich denn gefühlt, als Sie die Liste geschrieben haben?«
    » Gar nicht. Ich habe mich gar nicht gefühlt. Herrje, muss man denn hier dauernd etwas fühlen? Kann man nicht auch einfach mal überhaupt gar nichts fühlen?«
    » Das wäre schön«, sagt Tanja leise und schaut apathisch aus dem Fenster.
    » Gut, gehen wir einfach mal davon aus, dass Sie, wie Sie sagen, nichts gefühlt haben. Wie hat sich denn dieses Nichts angefühlt?«
    Ich starre ihn an.
    » Frau Schaumann, versuchen wir es anders: Welchen Punkt würden Sie denn als wichtigsten hervorheben?«
    » Rotwein.«
    Die anderen lachen. Florian ruft: » Oh ja, endlich mal wieder richtig saufen.«
    Sofort bricht eine laute, wilde Diskussion darüber aus, welches Getränk am meisten vermisst wird. Schließlich einigt man sich auf Bier. Nur Marie schaut alle ungläubig an und sagt schließlich wütend: » Ich fasse das nicht. Jetzt reden wir hier über Saufen. Der Typ zu Hause kennt auch nix anderes. Können wir vielleicht mal über das eigentliche Thema reden?«
    » Und das wäre?«, fragt Simon.
    » Na, die Liste!« Marie schüttelt verständnislos den Kopf.
    In der Zwischenzeit haben sich tausend Liter Wut in meinem Bauch versammelt und schwappen in meinem Magen herum wie Galle, die sich gleich den Weg nach oben suchen wird. Meine Hände habe ich unter die Oberschenkel geschoben, und die Finger verkrampfen sich im Polster des Stuhls.
    » Könnt ihr vielleicht alle mal die Schnauze halten?«, ruft plötzlich eine Stimme laut, die sehr nach meiner eigenen klingt. Es wird sehr, sehr still im Raum.
    » Frau Schaumann, wir haben alle größtes Verständnis dafür, dass Sie angespannt sind. Aber solche Ausdrücke dulde ich hier nicht. Sie können sich jetzt überlegen, ob Sie sich entschuldigen wollen und hierbleiben, oder ob Sie draußen darüber nachdenken, ob eine Entschuldigung nicht angebracht wäre.«
    » Entschuldigung«, sage ich und habe mit jeder Silbe mehr das Gefühl, nichts mehr unter Kontrolle zu haben. Mich nicht, den Teil meines Gehirns nicht, der dafür zuständig ist zu entscheiden, welche Informationen in Laute gewandelt werden und welche nicht.
    » In Ordnung. Machen wir weiter. Und ich bitte Sie: Bleiben Sie konstruktiv, Herrschaften.« Weimers blickt mit ernster, strenger Miene in die Runde und runzelt die Stirn, während seine Worte nur wie Versuche und nicht wie Befehle klingen: hohl und ohne den Anschein zu erwecken, als seien sie dazu bestimmt, ihrer eigenen Wirkung zu entsprechen.
    » Also, mir ist zum Beispiel wichtig, dass ich eine Perspektive habe. Und einen Beruf, der mir Spaß macht. Das sind so ’ne Sachen, die wichtig sind im Leben. Und das hab ich bei deiner Liste irgendwie vermisst, sorry«, sagt Walter mit aufrichtigem Bedauern.
    Ich nicke und suggeriere Verständnis, dabei ist mir Walter egal.
    Sie sind mir alle egal. Ich will im Grunde nicht hören, was sie von meiner Liste halten. Ich will gar nicht wissen, welchem von ihnen dieser oder jener Aspekt des Lebens wichtig ist. In den letzten Wochen habe ich mich bis zur Unerträglichkeit zusammengerissen. Habe freundlich genickt, Zuspruch ausgesprochen und den Eindruck vermittelt, es interessiere mich, dass Florian sich eine liebevolle Familie wünscht, dass Nina endlich mal wieder lachen will, dass Tanja ihr Kind wiedersehen möchte und dass Simon glaubt, dass es nur eine einzige Person in seinem Leben gäbe, die ihn jemals aufrichtig geliebt habe: er selbst. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben und ein perfektes Hologramm meiner selbst erschaffen, das Gefühle wie Ping-Pong-Bälle zwischen den anderen hin- und herwarf, ebenjene Gefühle, von denen ich annahm, dass sie in genau diesem Moment erwünscht seien.
    » Jetzt mal im Ernst. Was soll das denn alles hier, Herr Weimers?«, fragt Tanja plötzlich laut. » Wir lesen unsere Listen vor, wir sprechen über Schlagworte, die Synonyme sind für Dinge, die wir sowieso nicht erreichen. Und wenn wir sie erreichen, dann schützen sie nicht, sie warnen nicht, sie kümmern sich nicht. Wenn Walter nicht in den Knast geht, dann macht er eben einen Lagerjob oder so etwas. Und dann? Schützt der Job ihn davor, noch mal durchzuknallen? Wir sind doch alle nicht hier, weil etwas mit unserem Leben nicht stimmte, sondern mit uns!«
    » Sie sehen das ein bisschen falsch herum, Tanja. Sie glauben, dass nur das Leben besser sein sollte, damit es Ihnen bessergeht. Aber wer bestimmt denn das Leben, Ihr Leben, wie es

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