Drüberleben
kaum geändert hatten. Zurück kam ich jedes Mal, wenn ich in einer neuen Klinik, in einem neuen Funkloch des Verstandes versackt war und nicht mehr weiterwusste. Zurück kam ich, wenn ich am Arsch war. Und ich weinte.
Erst zum Abendessen verlasse ich das Zimmer, um anschließend mein altes Fahrrad aufzuschließen, und fahre zu dem vereinbarten Treffpunkt, an dem mich Peer und Sebastian abholen wollen. Ich fahre vorbei an den Häusern der Nachbarn, die damals die Eltern der Kinder waren, die lieber nicht mit Ida spielen wollten. Vorbei an diesen Häusern, in denen mittlerweile alte Menschen wohnen, die mein Gesicht nicht mehr erkennen würden als das des Schaumann-Kindes. Ich fahre vorbei an der Spelunke, die uns, ohne unseren Ausweis sehen zu wollen, Alkohol ausschenkte und in der die Väter der Kinder saßen, über die man tuschelte.
Auch Julias Vater saß dort. Während sich seine Besuche vor ihrem Tod auf die Treffen mit seinem Schützenverein beschränkten, saß er nach ihrer Beerdigung immer häufiger an dem Tresen, der nie richtig gereinigt zu werden schien, um am Ende täglich dort ab mittags zu sitzen, zu trinken, zu rauchen und zu weinen, ohne jemals eine Träne zu vergießen.
Über ihn wurde nicht gesprochen. Über ihn nicht und über den » Unfall« auch nicht. Alle wussten, dass Julia sich das Leben genommen hatte, dass es kein Unfall, kein Schicksalsschlag, keine Krankheit gewesen war. Aber ihre Eltern hatten es immer nur den » Unfall« genannt. Und so hatte irgendwann jeder irgendwie daran geglaubt. Ohnehin: Was hätte es auch genützt, die Wahrheit auszusprechen? Ein Kind war tot. Nur das zählte am Ende.
Peer und Sebastian sind pünktlich und älter geworden. Sie tragen beide einen braunen Bart und Kleidung, die nicht ganz in diese Kleinstadt zu passen scheint. Peer ist außerdem unnatürlich braun für diese Jahreszeit und trägt nur eine dünne Jacke. Im Urlaub sei er gewesen, » war schön«, sagt er. Sebastian ist noch stiller als damals und ringt sich gerade so zu einer Umarmung durch. Wir beschließen, uns in eine neu eröffnete Bar zu setzen, die der aktuelle Treffpunkt der Jugend in R. sein soll– behauptet Peer.
Mir ist egal, aus welcher Bar, aus welcher Flasche der Alkohol kommt, in dem ich die Überforderung, die den überbordenden Sinneseindrücken geschuldet ist, ertränken kann.
Wir setzen uns an einen Tisch und schweigen verlegen. Sie sind älter geworden, ja, älter, und trotzdem ist in ihren Gesichtern der gleiche Ausdruck geblieben, den sie auch schon trugen, als sie mich und meinen Rucksack damals zum Bahnhof gebracht hatten. Sie sind noch keine Männer, auch wenn ihre Stimmen so klingen, aber sie sind auch nicht mehr die beiden Jungen, die ich nie als Partner in Betracht gezogen hatte– zu nah waren wir uns gewesen, zu sehr hatten wir die Freundschaft der anderen gebraucht, als dass wir jemals auch nur in die Versuchung eines Kusses geraten wären.
» Also«, beginnt Peer als Erster, » wie geht’s dir so, Ida?«
» Gut«, antworte ich knapp.
» Na, komm, ein bisschen mehr haste ja wohl zu erzählen! Was macht das Leben, die Liebe, das Studium, wie ist es so in H.?«
» Ich bin in der Klapse«, sage ich, um das gleich mal klarzustellen. Peer lacht, und Sebastian schaut traurig. Wie unterschiedlich diese beiden Menschen sind. Wie unterschiedlich wir alle immer gewesen sind. Was hatte uns verbunden? Schlichte Rettungsboottaktik: Wir hatten alle niemanden, also hatten wir uns?
» Mal wieder, ja?«, lacht Peer.
» Ja, aber dieses Mal ist es das letzte Mal. Dieses Mal ist es anders.«
» Du klingst wie ein Junkie, der seinen zehnten Entzug macht«, stellt Sebastian fest.
» Nein, ich meine: Dieses Mal will ich…«
Die Bedienung bringt die Getränke, und wir schweigen, bis sie wieder gegangen ist.
» Jedenfalls: Es ist das letzte Mal. Ich habe das Gefühl, endlich zu wissen, warum es mir so schlechtgeht.«
» Immer noch wegen Julia, oder was?«
» Ja. Und nein. Nicht nur.«
» Mann, Ida, sie hat sich umgebracht. Da kann doch keiner was dafür. Ist halt ihre Entscheidung gewesen. Komm mal drüber hinweg. Das ist fast zehn Jahre her. Wie lange willst du denn noch den sterbenden Schwan geben?«
Ich werfe einen verunsicherten Blick zu Sebastian, der in sein Bier starrt.
» Im Ernst jetzt: Hängst du der Sache immer noch nach?«, fragt Peer weiter.
» Ja, Peer, ich hänge der Sache nach. Und einigen anderen Sachen auch.«
» Du warst immer schon so. So
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