Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
Leung Jan bestand darauf.
An diesem Tag arbeitete Tonia schräg gegenüber; das war ungewöhnlich. Aber Tonia hatte die Woche eine Kräuterkunde-Stunde verpasst und hinterher behauptet, sie sei „unpässlich“ gewesen. Deshalb musste sie heute den Reitunterricht ausfallen lassen, um die Kräuterkunde-Stunde nachzuholen. Tonia stampfte betont missmutig in ihrem Kokosfett herum und machte sich gereizt und flüchtig Notizen. Als Julie auf Tonias Notizblatt sah, stutzte sie. Die Handschrift kam ihr seltsam bekannt vor! Julie sah genauer hin. Das Papier kannte sie auch, es war grünlich und handgeschöpft! Es gab keinen Zweifel, der Zettel, den der Gager vor der Falknerprüfung in der Hand gehalten hatte, war von Tonia gewesen!
Julies Herz begann zu rasen. Sie wollte Tonia gerne anschreien oder anders ihrer Wut freien Lauf lassen, aber die Zeit mit Swantje und ihren fiesen Komplizinnen in der Schule da draußen hatte sie gelehrt, nicht sofort dem ersten Impuls nachzugeben. Julie versuchte sich zu beruhigen, und mit Mühe schaffte sie es, wieder ganz normal zu atmen.
Daan, der neben ihr stand, hatte mit seinen scharfen Sinnen sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Fragend sah er Julie an, doch diese schüttelte nur den Kopf. Achselzuckend wandte sich Daan wieder seinen Aufzeichnungen zu. Bis zum Ende des Unterrichts war Julie deutlich unkonzentrierter als sonst. Die geforderte Art, eine Packung in das Tuch einzubinden, beherrschte sie eigentlich im Schlaf, aber heute machte sie es schlecht. Leung Jan warf ihr zum ersten Mal, seit er Julie unterrichtete, einen tadelnden Blick zu. Julie senkte den Kopf; sie war froh, dass diese Stunde für diesen Vormittag die letzte gewesen war. Auf dem Rückweg mit Daan und Mathys, der auf seinem Platz neben der Waage nichts mitbekommen hatte, mochte Julie noch nichts erzählen, aus Sorge belauscht zu werden. Doch kaum waren die Gefährten im ansonsten leeren Zelt angelangt, sprudelte es schon aus Julie heraus. Sie erzählte Mathys und Daan aufgebracht von ihrem Verdacht.
„Bist du sicher, dass es die gleiche Schrift war?“, fragte Mathys beschwichtigend. Immer wieder warf er einen kurzen Blick auf Julie. Kaum noch etwas erinnerte an das freundliche und ausgeglichene Mädchen, an das er sich so gewöhnt hatte.
„Ja, ich bin sicher“, gab Julie patzig zurück.
„Vielleicht gibt es noch Leute, die eine ähnliche Schrift haben, es muss ja nicht sein, dass es ausgerechnet Tonia war“, versuchte Mathys sie zu beruhigen.
„Verteidigst du Tonia jetzt, oder was?“, fragte Julie verletzt.
„Mathys, du hast doch gesehen, wie sie mit Pferden umgeht, der traue ich alles zu“, mischte sich Daan in den beginnenden Streit ein. Dankbar blickte Julie Daan an, wenigstens einer, der sie verstand.
„Ich mein ja nur“, sagte Mathys lahm, „es ist ja nicht ganz sicher, dass sie es war.“
„Danke für deine Unterstützung!“, fauchte Julie, die inzwischen wirklich wütend war. Sie hatte von Mathys mehr Vertrauen erwartet. Julie stürmte aus dem Zelt und griff dabei nach dem Kreuz an ihrem Hals, wie sie es seit früher Kindheit an schon immer tat, wenn es ihr nicht gut ging. Siedendheiß durchzuckte Julie ein riesiger Schreck. Das Kreuz war weg! – Plötzlich fiel es ihr wieder ein: Sie hatte das Kreuz ja im Gürtel. Julie blickte an sich hinunter. Grüne Waldläuferhosen heute, ein feines Damasthemd in weiß, aber kein Gürtel. Aus der Truhe kamen immer passend geschnittene Sachen, da konnte man schon vergessen, dass man keinen Gürtel trug. Seit sie genug zu essen bekam, hätte Julie aber auch zu Hause keinen Gürtel mehr gebraucht. Sie war zwar immer noch sehr schlank, aber nicht mehr zu dünn, wie am Anfang.
Sicher lag der Gürtel in der Truhe. Sie ging zurück zum Zelt. Was Mathys wohl gerade machte? Aus dem Zelt gekommen war er jedenfalls nicht. Im Vorraum bestätigte sich, was Julie schon geahnt hatte. Sowohl Mathys als auch Daan hatten sich in ihre Kammern zurückgezogen. Bei Mathys war der Vorhang geschlossen. Julie ging in ihre Kammer, um sie zu durchsuchen. Doch trotz aller Anstrengung: Sie fand keine Spur von dem Schmuckstück. Das Kreuz war weg! Julie liefen die Tränen über die Wangen. Sie hatte nicht gut genug aufgepasst. Das Schmuckstück war alles gewesen, was ihre Mutter ihr hinterlassen hatte. Nervös durchsuchte Julie erneut die ganze Kammer.
Der Gürtel lag nicht auf der Waschkommode, nicht hinter der Truhe, nicht auf dem Bett – er war weg. Und dazu noch
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