Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
bereit. Swantje schluckte naserümpfend das eklige grüne Gebräu, und sofort breitete sich eine klirrende Kälte in ihrem Körper aus.
„Frechheit!“, schimpfte Swantje, „Tonia hat nicht gesagt, dass einem davon so kalt wird.“
Währenddessen hatte sich der Schutz, den der Trank auslöste, schon vollständig aufgebaut. Wie ein Kokon schwebte ein grünlicher Puffer um Swantje herum. Sofort ließ das Kältegefühl nach. Achselzuckend sank Swantje auf ihre Matte. Kurz darauf verrieten ihre regelmäßigen Atemzüge, dass sie eingeschlafen war.
Nur einmal wurde Swantje kurz wach. Um sie herum schwebten etliche kleine Geister, die wütend aussahen. Swantje lächelte in ihren warmen Decken amüsiert vor sich hin, während die Höhlengeister energisch und sichtlich aufgebracht versuchten, in den Kokon zu gelangen, dann schlief sie wieder ein.
Julie hatte keine Anstrengungen unternommen, um sich vor den Höhlengeistern zu drücken. Wenn diese Auseinandersetzung dazu gehörte, dann gehörte sie eben dazu. So saß sie auf ihrem selbstgebauten Bett am Boden und wartete unruhig, was passieren würde. Nach einer Weile wurden ihr die Augenlider schwer. Julie legte sich hin und zog die mitgebrachte Decke mit dem seidig-kühlen Damastbezug höher. Von hier unten sah die Höhlendecke mehr schwarz als grau aus; so konnte man gar nicht genau erkennen, wie hoch die Höhle war. Die Dunkelheit schmerzte fast in den Augen. Julie fielen die Lider ganz zu.
Als hätte er nur darauf gelauert, erschien sofort der erste Höhlengeist an der Decke und stürzte sich auf die wehrlose Julie.
Aus den anderen Höhlen waren jetzt vereinzelt Schreie und seltsame Laute zu hören. Einige der Mädchen waren aufgesprungen und rannten, wild vor sich hin brabbelnd, durch ihre Höhlen. Andere lagen bleich und schweißgebadet da, das Bettzeug klebte an ihnen, und sie regten sich nicht, als seien sie in einer Totalstarre gefangen.
Julie wurde unruhig. In ihrem Kopf tauchten alte Bilder auf. Ihr elfter Geburtstag. Ihr Vater, krank und hustend. Swantje, die mit den anderen über sie lachte. Dazwischen immer wieder das Gefühl, das alles verdient zu haben. „Du bist schuld“, raunten die Geister, „es ist alles nur deine Schuld!“ – „Ohne dich wäre er nicht krank“, zischelte dann ein einzelner Geist. „Er müsste nicht Kessel schrubben!“
„Aber er kann doch jetzt tagsüber arbeiten, in einem anderen Job“, versuchte Julie, die sich inzwischen ganz klein und nichtig vorkam, im Traum zu widersprechen. Als hätten sie nur auf eine Reaktion gewartet, fielen die Geister alle gemeinsam über Julie her: “Genau, du hast ihn alleine gelassen!“ – „Jetzt hat er niemanden mehr!“ – „Deine Mutter ist deinetwegen gestorben!“ – „Ohne dich könnten sie noch glücklich zusammen sein!“ – „Du hast alles kaputt gemacht!“
Julie fing bitterlich an zu weinen. Eine Stimme erklang, eine Stimme ganz anders als die der Geister. Julie erkannte, dass es die Stimme ihrer Mutter war; obwohl sie noch so klein gewesen war, hatte sich der melodische Klang dieser Stimme tief in ihre Erinnerung eingebrannt: „Du kannst das, Julie, gib nicht auf!“
Obgleich ihr jetzt schon im Liegen schwindelig war, riss sie sich zusammen. Blitzartig wurde Julie ganz deutlich, was so offensichtlich war: Sie hatte sich die Gemeinheiten von Swantje und ihrer Familie all die Jahre nur gefallen lassen, weil sie das Gefühl hatte, büßen zu müssen für den Tod ihrer Mutter und das Leid ihres Vaters. Julie wurde sterbensübel, ihr Kopf schien zu zerspringen. Die Hände verkrallten sich in der Bettdecke. Aber Julie wurde nun auch bewusst, dass sie viel mehr von dieser Schuld abtragen konnte, wenn sie ihrem Leben einen Sinn gab. Als Hüterin konnte man seinen Teil dazu beitragen, die Welt besser zu machen; wenn sie also Hüterin würde, wäre ihre Mutter wenigstens nicht umsonst gestorben.
An dieser Stelle ihres Gedankenstroms hatten die Geister das Interesse an Julie verloren. Sie schwebten kullernd und kugelnd in die nächste Höhle, aus der schon bald gequältes Stöhnen zu hören war. Julie schlief schweißgebadet und völlig erschöpft ein. Die aufgezwungene Selbsterkenntnis hatte ihren Tribut gefordert.
Der nächste Tag brach sonnig an, wie jeder Sommertag in Tallyn. Die ersten Lichtstrahlen tanzten auf den fetten grünen Grashalmen und ließen die Reste des nächtlichen Regens verdunsten, so dass die Wand des Falkensteins, in der die Höhleneingänge
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