Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
wieder geschlossen. „Raus“, befahl er, „alle raus!“
Mathys war zu erschöpft für Protest. Er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich hilflos. „Anouk, können wir denn sonst nichts tun? Daan darf nicht sterben!“
Traurig schüttelte sie den Kopf. „Wir können nur warten.“
Langsam verließen Chris, Anouk und Mathys das Zimmer, nicht ohne noch einen letzten Blick auf Daan zu werfen. Auch Ria wollte gehen, doch Leung Jan hielt sie zurück. „Wenn du ihm wirklich so viel bedeutest, kommt er vielleicht zurück, Dryade“, sagte Jan. „Also sing!“
„Ich versuche es …“ Mit Tränen in den Augen begann Ria zu singen. Als Rias Stimme nach draußen drang, war es bei den anderen mit der Beherrschung vorbei. Sie stürmten außer sich vor Sorge in die Burg, nur um gleich in der Eingangshalle von Anouk und Chris, die ihnen mit ausgebreiteten Armen den Weg versperrten, wieder gebremst zu werden. Mathys Gesicht war Tränen überströmt. Auch Julie begann zu schluchzen.
Ria hielt Daans Hand. Sie sang ihm die schönsten Lieder ihrer Kindheit vor, führte ihn im Gesang durch den Wald, wie sie ihn sah. Und das Unglaubliche geschah. Die Farbe stieg langsam in Daans Wangen, und das bedrohliche Grau löste sich Stück für Stück auf. Der verbliebene Teil des Trankes zeigte seine Wirkung; und vielleicht hatte Rias Gesang ja auch etwas dazu beigetragen?
Ria riss die Tür auf und sah in erschrockene Gesichter, offenbar befürchteten alle Anwesenden das Schlimmste. „Es geht ihm besser, ich kann es fühlen, er ist zurück!“, rief sie fröhlich. Der ausbrechende Jubel kam nicht nur von den Jugendlichen; auch die Stimmen von Chris, Anouk und Leung Jan hallten durch die große Halle und schallten vielfach zurück. „Können wir rein zu ihm?“, fragte Kim.
„Auf gar keinen Fall“, erwiderte Leung Jan. „Er braucht jetzt dringend Ruhe und muss ausschlafen.“
Mathys wollte trotzdem in das Zimmer gehen; er dachte das „Nein“ gelte nicht für ihn. Doch Leung Jan hielt ihn zurück. „Lass lieber sie zu ihm gehen“, flüsterte er und nickte zu Ria herüber, „vielleicht hatte sie doch etwas damit zu tun.“
Widerstrebend machte sich Mathys mit den anderen auf den Weg. Durch das ganze Gequatsche und das Warten war es inzwischen fast Mittag geworden. Mathys war hungrig. Er merkte erst jetzt, wie anstrengend die Nacht und der Vormittag gewesen waren. Gut, dass sie alle nun zum Essplatz gingen. Als der Gong ertönte, saßen Daans Freunde bereits, die Finger schon am Rand der Schüsseln, und zauberten sich die leckersten Gerichte herbei.
Die Jagd auf den weißen Hirsch
Die Tage vergingen wie im Flug; Julie lernte Dinge, von denen sie vor einem halben Jahr noch nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Der Rat hatte Chris wegen der fehlenden Kreuzwarnung abgemahnt, davon hatten die Anwärterinnen und ihre Gefährten allerdings nichts mitbekommen. Die zukünftige Hüterin würde zwar zum erlauchten Kreis des Rates der Zwölf gehören – die Anwärterinnen taten es jedoch noch lange nicht.
Bei den Wirtschaftsgebäuden fand regelmäßig Unterricht zu den praktischen Arbeiten statt, die für die Einwohner von Tallyn wichtig waren. Tatsächlich funktionierte durch das hohe Aufkommen an Magie nicht ein einziges technisches Gerät. Nicht, dass es nicht einige besonders Hartnäckige mehrmals versucht hätten. Ein Handygespräch konnte man in der Welt draußen auch über kurze Entfernungen führen, damit hatte es durchaus seine Vorteile gegenüber dem Materialisieren, für das normale Magier eine Mindestentfernung brauchten. Aber was die Unentwegten auch versuchten, nach dem Durchtritt durch ein Portal in Richtung Tallyn war jedes technische Gerät so tot wie ein totes Stinktier – und ebenso nützlich.
Heute hatte Julie eines ihrer Lieblingspraxisfächer. Lederbearbeitung machte ihr Spaß, weil man sich meist aussuchen durfte, was man fertigte. Die Amulette, die Julie und die anderen hier oft herstellten, wurden später in Anouks Unterricht mit Magie aufgeladen. Und Julie arbeitete wie immer neben Mathys, das war ein weiterer Grund für ihre Vorliebe für dieses Fach. Daan war inzwischen fast wieder gesund und werkelte zufrieden vor sich hin. Es war schön, ihn so munter zu sehen.
Die Kinder in Tallyn lernten vom sechsten Lebensjahr an die Handwerke ihrer Welt und vervollkommneten ihre Fähigkeiten hier bis an ihr Lebensende; viele von ihnen hatten sich spezialisiert und es im Laufe der
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