Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
Jahre zu hoher Kunstfertigkeit auf einem Gebiet gebracht. Besonders die Minuiten waren handwerklich geschickt. Es handelte sich um eine Gruppe von Einwohnern, die seit Jahrhunderten zu Spionagezwecken in kindlicher Gestalt gebraucht wurden. Verbrachte man die Wintersonnwendnacht regelmäßig in Tallyn, wurde man nur ein Jahr älter, während draußen in der Welt zwölf Jahre vergingen. Verbrachte man diese Nacht jedoch draußen, alterte man um ein Jahr. Aus diesem Grund brachten die Familien der Minuits ihre Kinder über die Wendnacht nicht in die andere Welt, damit sie schnell älter wurden, sondern ließen sie traditionell langsam in Tallyn älter werden. So sah man ab und an einen scheinbar siebenjährigen Knirps einen augenscheinlich deutlich älteren Erwachsenen einen Volltrottel schimpfen, wenn eine Handwerkstechnik nicht auf Anhieb gelang. Das erregbare Gemüt eines Kindes legten die Minuiten nämlich leider nicht so schnell ab, wie sie handwerklich dazulernten. Als Spione waren sie jedoch unbezahlbar, denn die Schergen des Vogtes mussten unauffällig überwacht werden, und wer achtete schon auf ein Kind?
Sanft und sicher setzte Mathys das scharfe Messer auf das Leder auf und zog mit Hilfe eines Holzes einen geraden Schnitt. Er fertigte einen stabilen Unterarmschutz an. Die Lederflecken überlappten sich wie Drachenschuppen, so ein Schutz hielt sogar einen Schwertstreich aus. Das kräftige Leder versuchte sich knarrend und schabend der Bearbeitung zu widersetzen – allerdings ohne Erfolg. Als er einen Moment auf das Trocknen des Leimes warten musste, sprach Mathys Julie an: “Das hier ist für dich.“ Er fummelte ein schmales, geflochtenes Lederarmband aus der Tasche seiner Tuchhose. „Ich hatte noch Leder-Reste von der Amulettherstellung und habe für mich und Daan auch eines gemacht. Schließlich“, er wurde ein bisschen rot, „sind wir Gefährten …“
Julie strahlte. „Danke! Hilfst du mir, es umzulegen?“
Mathys kam ganz nah und knotete ihr das Band um das schmale Handgelenk, er roch nach Lederfett und Wald. Julie betrachtete das Band gerührt. Es war schlicht; zwei dunkle Lederbänder und ein helles Lederband waren einfach miteinander verflochten, aber sie hätte es nicht gegen ein kunstreich verziertes Armband aus Gold eintauschen mögen.
Glücklich arbeitete Julie den Rest der Stunde an der Lederfassung für ihr Amulett. Sie legte zwei Schichten weiches, mit Pflanzen gegerbtes Leder aufeinander. Dazwischen schob sie zusammen mit etwas Leim einen dunkelrosenroten Rhodonit mit schwarzen Äderchen, so dass das Leder an beiden Seiten überstand. Der Stein bestand aus Mangansilikat, welches die Magie besonders gut und lange hielt und deshalb gerne für Amulette genommen wurde. Nachdem Julie das Leder ringsherum vernäht hatte, schnitt sie vorsichtig ein ovales Loch in die Oberseite; nun war der Stein zwar zu zwei Dritteln zu sehen, konnte aber durch den Rand nicht herausfallen. Die Stunde war um, Julie war zufrieden. Sie sollten bis zum Unterricht bei Anouk einen Amulett-Rohling fertig haben, und nun hatte Julie schon zwei. Daan hatte heute an einem Gürtel gearbeitet; er trug ausschließlich selbst hergestellte Kleidung, denn die magischen Eigenschaften eines von Elfenhand geschaffenen Kleidungsstückes konnten die Truhen nicht hervorbringen. Daan war durch den Gift-Biss des Katakombenhundes stark abgemagert und brauchte einen engeren Halt für seinen langen Lieblingsmantel. Der Mantel war aus dünnem Leder, deshalb konnte man ihn auch im Sommer gut tragen. Ohne Gürtel bauschte sich der Mantel neuerdings vorne beim Reiten etwas auf und war dauernd im Weg. Zufrieden drehte er den fertigen Gürtel zum Betrachten hin und her.
Alle drei waren gespannt, was die nächste Aufgabe auf dem Weg zur großen Prüfung sein würde, denn am kommenden Tag, am Samstag, stand entschieden etwas Schwieriges an. Doch nicht einmal Daan und Mathys hatten eine Ahnung, was es sein würde; einige Geheimnisse Tallyns waren nur dem Rat bekannt. Aber alle in Julies Zelt waren sich einig, dass es etwas mit dem geheimnisvollen weißen Hirsch im Jagdwald zu tun haben musste. Was genau jedoch die Aufgabe war, würde man wohl erst am kommenden Morgen erfahren.
Trotz der Anspannung lag eine fröhliche Atmosphäre über der Stadt. Die Musiker spielten auf ihren Schalmeien, viele Kinder turnten barfuß zu den mittelalterlichen Klängen herum und etliche der Drei- und Vierjährigen übten mit Holzschwertern für den Ernstfall.
Weitere Kostenlose Bücher