Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
letzte Anweisungen; es gingen immer fünf Gruppen zusammen los. Leung Jan, ganz in einen schwarzen Kung-Fu-Anzug gekleidet, trat unbemerkt von hinten in seinem Garten an die Gruppe heran.
„Was guckt ihr so? Ist alles in Ordnung?“, fragte er.
„Nichts ist in Ordnung“, sagte Julie mit grabestrauriger Stimme. „Wir können uns schon einmal verabschieden, wir haben die letzte Nummer gezogen, und wer keine Haare von dem weißen Hirsch erwischt, kann nicht Hüterin werden.“ Julie spürte einen Kloß im Hals; bloß nicht heulen: Sie hatte sich so an das Leben in Tallyn gewöhnt. Es war angenehm, nicht mehr gehänselt zu werden. Die Leute hier konnten Julie gut leiden, weil sie freundlich und hilfsbereit war. Und dann würde sie auch von Mathys und Daan und Go weg müssen! Mit Julies Beherrschung war es vorbei. In Sturzbächen liefen ihr die Tränen die gebräunten Wangen hinunter.
„Nana!“, sagte Leung Jan, „nur weil ihr die Letzten seid, müsst ihr doch nicht versagen.“
Daan mischte sich ein: „Anouk hat gesagt, am Ende ist der Hirsch so verschreckt, dass die Chancen schlecht sind.“
„Mag sein.“ Leung Jan lächelte. „Aber der Weg ist erst zu Ende, wenn er zu Ende ist. Wenn ihr vor dem Ende umkehrt, wisst ihr nicht, was gekommen wäre.“
„Meinst du damit, dass wir noch nicht aufgeben sollen?“, fragte Mathys. Sein entschlossener Gesichtsausdruck verriet, dass er zumindest versuchen wollte, die Aufgabe zu meistern.
„Ja, das meine ich“, erwiderte Leung Jan. „Und denkt daran, allen Wesen wohnt die gleiche Göttlichkeit inne. Wenn ihr das berücksichtigt, werdet ihr mit Würde tun, was getan werden muss.“
Lächelnd drehte Leung Jan sich um und ging zurück in den Garten. Sein Freund Karl war zu Besuch.
„Gab es Schwierigkeiten?“, fragte Karl.
„Die Gruppe, die mir am besten gefällt, hat die letzte Nummer bei der Jagd auf den Hirsch gezogen.“
Karl setzte seine Teetasse ab, das feine Knochenporzellan ließ den Spiegel des Tees auch von außen erahnen. „Wenn sie so gut sind, wie du sagst, werden sie schon einen Weg finden.“
„Sicher, ich kenne Mathys, Daan und Julie schon lange genug, denen ist viel zuzutrauen. Außerdem spürte ich bei Julie etwas, das ich noch nicht oft gespürt habe. Sie könnte einmal zu den ganz Großen gehören. Aber es kann noch viel passieren …“
Eine geschlagene Stunde lang geschah gar nichts. Missmutig und niedergeschlagen saßen Julie und ihre Gefährten auf dem Mäuerchen und warteten. Endlich brachen die ersten Grüppchen knackend und raschelnd aus dem Saum des Jagdwaldes hervor. Triumphierend trugen sie ihre Beute, einige Haare des weißen Hirsches, in der gehobenen Hand in den Kreis. Anouk ließ sich die Haare kurz zeigen und hakte die Namen der Grüppchen, die Erfolg gehabt hatten, mit einer langen tintenbenetzten Auerhahnfeder auf ihrer Liste ab.
„Es dauert noch, bis wir dran sind, und wir werden unsere Kraft brauchen“, mahnte Mathys. „Lasst uns erst einmal etwas essen gehen.“
Daan war das recht, und Julie war inzwischen so niedergeschlagen, dass ihr alles egal war. Klackernd stieß sie Kieselsteinchen auf dem Weg an die Seite. Vielleicht sollte sie die letzten Stunden lieber mit Go verbringen, als im Wald herumzuhetzen? Es hatte ja sowieso keinen Sinn. Nun, sie würde ihren Vater sehen, wenigstens etwas. Völlig unvermittelt fing Julie wieder an zu schluchzen. Mathys und Daan blickten sich an.
„Jetzt heult sie schon wieder“, raunte Mathys zu Daan. „Sicher, ist blöd wenn wir verlieren, aber doch auch kein Weltuntergang. Was sagt man bloß in so einer Situation?“ Daan zuckte mit den Schultern. Also sagte Mathys zu Julie, was ihm gerade durch den Kopf ging: “Nun hör doch mal auf zu heulen, so schlimm ist es auch wieder nicht.“
Fast meinte Julie, sich verhört zu haben. „Nicht schlimm?“, schimpfte sie empört, „nicht schlimm? Für dich vielleicht, du bist hier geboren, du wirst nicht gelöscht und zurückgeschickt, ich werde das schon. Weg von dir und Daan werde ich gerissen und von Go und von allem!“
Mathys starrte auf seine Füße – daran hatte er nicht gedacht. Dass Julie jemals Tallyn wieder verlassen könnte, war ihm nicht im Traum eingefallen; er hatte sich so an sie gewöhnt. Jetzt guckte Mathys genauso betrübt wie Julie. Daan reichte es. „Ihr habt doch gehört, was Leung Jan gesagt hat: Der Weg ist erst zu Ende, wenn er zu Ende ist. Also lasst uns lieber überlegen, was wir tun
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