Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
draußen.
„Wie peinlich“, fluchte er leise, „was denkt sie jetzt bloß von mir?“
Daan wäre beruhigt gewesen, hätte er gewusst, was Aewore dachte. „Er ist ein guter Junge“, flüsterte sie dem nächsten Huhn zu, „genau wie sein Vater!“
Daan machte sich auf die Suche nach den anderen. Julie
fand er auf dem Essplatz. Sie streckte ihm schon im Näherkommen das Buch entgegen – Chris hatte es tatsächlich im Regal gehabt und ihr überlassen. Gemeinsam liefen die beiden weiter, bis sie auch Mathys aufgestöbert hatten. Er kam aus der Burg, wo in der riesigen Kaminhalle, die das Herz der Burg war, ein Holzschrank mit ledernen und pergamentenen Karten stand. Ein Teil der Karten zeigte Tallyn und die Umgebung, der andere Teil waren uralte Darstellungen der Menschenwelt. Jede einzelne dieser Karten wäre ein Vermögen wert gewesen, aber die Bewohner Tallyns hatten nie die Absicht gehabt, die Karten zu verkaufen. Tallyn wurde schließlich nicht durch Geld zusammengehalten, sondern durch Magie. Jeder in Tallyn durfte die Karten einsehen, Mathys war nicht ganz sicher, ob es auch erlaubt war, eine der Karten mit nach draußen zu nehmen – aber es interessierte ihn auch nicht wirklich. Sein sonst so ausgeprägtes Gefühl für Recht und Unrecht war hinter die Angst zurückgetreten, sich vielleicht noch am Abend von Julie verabschieden zu müssen.
Er hielt krampfhaft die lederne Karte an den Bauch gedrückt. Wie immer lief er in bequemen Tuchhosen herum, die weder beim Reiten noch beim Kampftraining störten und trug statt eines Oberteiles nur einen ledernen Schulterüberwurf. Jetzt hätte Mathys den Überwurf gerne gegen ein Leinenhemd getauscht, hätte er doch so die Karte unter dem Hemd vor neugierigen Blicken schützen können.
Gemeinsam gingen die Gefährten zum Zelt. Es war noch früh, und man hatte ihnen gesagt, dass sie nicht vor fünf Uhr nachmittags an der Reihe sein würden. Im Zelt breitete sich bald der tröstliche Duft von gezuckertem Tee und Vanille aus. Daan hatte Tee aus seinem Spezialvorrat für besondere Gelegenheiten ausgegeben. Der „Elfentraum-Tee“ stammte aus den Gärten von Aßlar und sollte Schwermut vertreiben. Daan und Mathys studierten die Karte, während Julie in dem Buch herumsuchte. Es waren Blätter und Pflanzen darin beschrieben, die Julie noch nie gesehen hatte. Auch einige der Tiere, die abgebildet waren, wirkten merkwürdig fremdartig; Julie konnte sich beispielsweise nicht erinnern, im Biologieunterricht einmal von lilafarbenen Kröten gehört zu haben. Julie blätterte weiter den Tierteil durch, bis sie zu dem weißen Hirsch kam. „Hier“, rief sie aus und deutete aufgeregt mit dem Finger auf die Seite, “ich habe etwas gefunden!“
Daan stellte die Teedose weg. “Was hast du gefunden?“
„Lies doch mal vor“, drängte Mathys.
Julie blickte auf die verschlungenen Buchstaben. Der erste Buchstabe der Seite war recht groß und in goldener Farbe – oder war es sogar Blattgold? – wunderschön verziert; die Querstriche des „E“ waren mit filigranen Ranken geschmückt, und der Hauptstrich zeigte eine vollendet schöne Frau mit haselnussbraunen Locken bis zur Taille. Obwohl es eindeutig altdeutsche Schrift war, hatte Julie keine Schwierigkeiten damit, die Buchstaben zu lesen. Es war, als hätte sie es immer schon gemacht. „Also, hier steht:
Einst hat er sie verwundet
das war die große Schuld
die wird vielleicht gestundet
zeigt einer ihm Geduld
Zu heilen nun wird bleiben
des weißen Hirsches Los
der volle Mond wird treiben
ihn in des Waldes Schoß“
Ratlos sahen sich die Jugendlichen an.
„Was kann denn damit gemeint sein?“, fragte Mathys. „Vielleicht ist es ein Rätsel oder so“, überlegte Daan. „Wann ist denn Vollmond?“
Julie legte beim Nachdenken die Stirn in krause Falten. „Ich glaube, das war letzte Woche, das hilft uns auch nicht weiter“, sagte sie.
Langsam zeigte der Elfentee seine aufmunternde Wirkung; Mathys grinste. „Das mit den Stirnfalten“, raunte er leise in Daans Richtung, „ist niedlich.“
Daan stieß ihn an: „Los, wir müssen weitermachen, es wird immer später, und wir haben noch gar keinen Plan.“
Unsanft kam Mathys wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Julie hatte nichts davon mitbekommen, dass Mathys sie so angestarrt hatte. Sie schaute die ganze Zeit auf die Zeichnung mit dem riesigen weißen Hirsch. Das stolze Tier wirkte traurig, wenn man das von einem Hirschen überhaupt sagen
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