DS055 - Der Allwissende
Keller.«
Weitere Blitze zuckten jetzt am Himmel, und in ihrem Widerschein schienen die Häuserfronten grün zu glühen.
Doc bückte sich vor dem Schaufenster der Musikalienhandlung und hob eine Damenhandtasche aus Kettendraht auf, ebenso die kleine Pistole, die herausgefallen war.
»Die Initialen der Besitzerin sind S.F.«, stellte er fest, indem er auf ein graviertes Schildchen deutete. Er zog eine der Visitenkarten heraus, die sich in der Tasche befanden. »Lady Sathyra Fotheran«, las er vor.
»Verdammt«, knurrte Monk. »Das heißt, daß die Kerle die Lady geschnappt haben. He, da seht doch mal!« Doc hatte bereits vor ihm gesehen, was noch im Schnee lag. Es waren ein paar Ohrringe und eine wertvolle Armbanduhr.
»Und hier ist auch noch ein Ring«, sagte Ham und hob den Diamantring auf, den er im Schnee an der Bordsteinkante hatte blitzen sehen. »Sie müssen ihr den Schmuck heruntergerissen und ihn dann, als der Cop zu schießen begann, fallengelassen haben.«
»Ich glaube, so einfach ist die Sache nicht«, bemerkte der Bronzemann. »Ist euch das merkwürdige Leuchten hier noch nicht aufgefallen? Es kommt keineswegs etwa vom Schnee.«
Tatsächlich fluoreszierte alles um sie herum, als sei es mit Zinksulfit, einer Leuchtfarbe, angestrichen.
Und dann stieß Doc plötzlich einen eigenartigen trillernden Laut aus.
Monk folgte seinem Blick. »Heiliger Moses! Mich soll der Affe lausen, wenn ich glaube, was ich da sehe! Siehst du es etwa auch, Ham? Dort im Schaufenster!«
»Du siehst es wirklich«, konstatierte Doc. »Oder vielmehr – du siehst sie.»
Ein Hochbahnzug fuhr rumpelnd in die Station. Mehrere Leute kamen die Treppe herunter. Aus zwei verschiedenen Richtungen war das Geheul näherkommender Polizeisirenen zu hören. Gleich darauf bremste im Schnee schlitternd ein Streifenwagen neben Doc.
Detektiv Inspektor Carnahan, rotgesichtig und cholerisch, sprang heraus, gefolgt von vier Männern. Er bellte Befehle.
»Riegelt den Block ab! Es sind Slim Decarro und Creeper Hogan von der Jano-Bande! Sie haben einen unserer Boys gekillt! Oh, hallo – Sie sind auch hier, Savage? Wieder mal einer jener merkwürdigen Zufälle?«
»Es war kein Zufall«, stellte Doc ganz ruhig fest.
»Was wissen Sie dann von der Sache? Auf wen hatten es die Jano-Killer abgesehen? Oder war dies ein Gangsterkrieg?«
»Keine Gangsterschießerei, Inspektor«, sagte der Bronzemann. »Eine Frau wurde ermordet.«
»Eine Frau? Was für eine Frau?« schnauzte Carnahan. »Wo ist sie?«
»Dort!« Doc deutete mit der Hand. »Im Glas der Schaufensterscheibe.«
»Im Glas der Schaufensterscheibe? Sagen Sie mal, Sie sind wohl übergeschnappt!« Aber dann sah der Inspektor es selber, und die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf. »Du meine Güte! O’Malley, Connors, kommen Sie eben mal her!«
Die beiden Detektive kamen heran und rissen ebenfalls die Augen auf.
»Bei allen Heiligen!« japste einer. »Da drin ist tatsächlich ein Bild!«
In dem dicken Glas der Schaufensterscheibe war rätselhafterweise das Bild einer gehenden Frau festgehalten, allerdings nur in der Art eines Schattenrisses, nicht wie eine Fotografie, weil die Zwischentöne fehlten.
Inspektor Carnahan fuhr zweifelnd mit der Hand über die Schaufensterscheibe, die sich aber als absolut glatt erwies.
»Brecht die Ladentür auf!« schnappte er. »Das wollen wir uns doch gleich mal von innen ansehen! Savage, Sie bleiben hier. Mit Ihnen habe ich noch zu reden.«
Als das Schloß der Ladentür aufgebrochen war, ging Carnahan als erster hinein und befühlte die Scheibe von drinnen. Mit hochrotem Kopf kam er wieder heraus. »Nichts!« rief er.
»Gestern war die Scheibe jedenfalls noch absolut klar«, erklärte Detektiv O’Malley. »Da war ich nämlich in dem Laden drin, um meinem Jungen eine Mundharmonika zu kaufen.«
»Aber wo ist dann die Tote?« fragte Carnahan. »Das
Corpus delicti
?«
»Eben da in der Schaufensterscheibe«, erklärte Doc gelassen.
Inspektor Carnahan bekam einen Kopf wie ein roter Ballon, der jeden Augenblick zu platzen drohte.
»O’Malley! Conners!« bellte er. »Sie bewachen die verrückte Schaufensterscheibe! Ich hole indessen Verstärkung und lasse die Fahndung nach Whitey Jano anlaufen. Ich dachte, der Kerl sei sich inzwischen zu gut für so plumpe Sachen!«
Was Inspektor Carnahan meinte, war, daß ›Whitey‹ Jano vom kleinen Bandenchef zum Weißen-Kragen-Verbrecher avanciert war, seit er von der unteren East Side in ein luxuriöses Penthouse
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