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Dschiheads

Dschiheads

Titel: Dschiheads Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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mehr da. Das Laken ruhte flach auf der Unterlage. Wo seine Beine hätten sein müssen, war … Leere. Nichts hat mich im Leben je so erschüttert wie dieser Anblick des Lakens, das flach auf der Tischplatte lag. Nichts. Es haute mich buchstäblich um. Ich stürzte hin und war einige Minuten lang weggetreten.« Jonathan blickte mit einem leisen Winseln zu Ailif auf. »Mutter wollten sie mir erst gar nicht zeigen. Aber ich bestand darauf. Der Pathologe, ein großer dürrer Schwarzer mit türkisfarbener OP-Maske und Latexhandschuhen, zog das Laken behutsam herab und entblößte Stirn und Augen. Ich griff danach, um das Gesicht freizulegen, doch er hielt den Saum des Lakens fest und schüttelte den Kopf. So sah ich nur ihre Augen, die leer durch mich hindurchstarrten. Ich strich mit den Fingern über ihr Haar. Es fühlte sich an wie immer: drahtig und doch weich. Dann machte ich kehrt und rannte durch endlose Reihen von Tischen, die mit Laken bedeckt waren. Bei der Beerdigung erfuhr ich, weshalb der Pathologe mir den Blick auf ihr Gesicht verwehrt hatte. Ein Metallstück hatte ihr bei der Explosion den Unterkiefer weggerissen.«
    Die Bombe hatte nicht nur auf dem St.-Patrick-Weihnachtsmarkt schreckliche Verheerungen angerichtet, sondern auch den Raumzeitpunkt, an dem der Anschlag stattgefunden hatte, unwiederbringlich zerstört – zumindest in Ailifs Erinnerung, in seinem Innern. Eine kalte Leere hatte sich in ihm aufgetan. Es fiel ihm schwer, sich in der Wirklichkeit jener Wintertage zurechtzufinden; sie schienen wie von grauen Spinnweben verhangen, die er nicht durchdringen konnte. War es Verdrängung oder heilsames Vergessen? Scheu schlich er am Rande der Massenbeerdigung herum, als gehörte er nicht zu den Trauernden, starrte in das einsetzende Schneetreiben, das der graue Himmel über die Trauergemeinde ausstreute, und hielt sich die Ohren zu, als die Namen der Opfer verlesen wurden.
    Nachts, im Halbschlaf, kroch seine Hand in die andere Hälfte des Doppelbetts hinüber in der vagen Hoffnung, dass das alles nur ein schrecklicher Traum gewesen war, aber er fand keinen warmen lebenden Körper in der Dunkelheit, keinen Batta. Das Laken war glatt und kühl, und die Atemzüge, die er vernommen zu haben glaubte, waren wohl seine eigenen gewesen. Es war das grausamste und einsamste Weihnachten seines Lebens.
    Aber die Demütigungen sollten erst noch kommen. Da er kein Vollwaise war, wurde er nicht zur Adoption freigegeben. Da aber die Ankunft seines Vaters erst in zwei Monaten zu erwarten war, bestimmten die Behörden seine Tante Selma zum vorläufigen Vormund, ausgerechnet Selma, die ältere Schwester seiner Mutter: herrschsüchtig, besserwisserisch und sparsam bis zum Geiz. Seine Mutter hatte sie nicht leiden können und keinen Kontakt mit ihr gepflegt, der über Geburtstags- oder Feiertagsgrüße hinausging. Sein Vater hatte sie verabscheut, es hatte ihn Stunden der Überwindung gekostet, bis er seinen Namen unter eine Grußkarte setzte, und Nachrichten mit ihrem Absender öffnete er grundsätzlich nicht, sondern löschte sie unbesehen. »Die will bloß wieder schnorren«, knurrte er.
    Nun war ihre Stunde gekommen. Ailif musste zu ihr ziehen, weil sie sein Elternhaus vermieten wollte. Die Behörden untersagten das, aber sie setzte durch, dass sie zumindest das Zimmer, in dem er und Batta geschlafen hatten, zeitweilig untervermieten durfte, angeblich, um die Beerdigungskosten und seinen Unterhalt zu zahlen. Ihren Wutausbrüchen entnahm er, dass ihr das nicht gelang, und es stundenweise zu vermieten wagte sie doch nicht, aus Angst vor seinem Vater. Trotzdem: Er musste sein Zimmer räumen.
    Er fügte sich zähneknirschend, aber nicht ohne vorher den Schmuck seiner Mutter in einen Plastikbeutel zu stecken und im Garten unter den Rosen an der Mauer zu vergraben. Selma durchsuchte das ganze Haus, wühlte mit ihren Wurstfingern im Wäscheschrank seiner Mutter. »Sie hat doch Ohrringe gehabt, Broschen … Hat sie die etwa verscherbelt, um euch Fratzen auf dem St.-Patrick-Markt etwas zu kaufen? Das sähe ihr ähnlich, dieser einfältigen Ziege. Für ihre Zwillinge war ihr ja nichts zu teuer. Das hat sie nun davon!«
    Er biss die Zähne zusammen und zuckte mit den Achseln.
    Ihm wurde ein winziger unbeheizter Raum unter dem Dach zugewiesen, nicht größer als eine Besenkammer. Er fror, dass ihm die

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