Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dschiheads

Dschiheads

Titel: Dschiheads Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
Vom Netzwerk:
von dir aus gesehen in der Vergangenheit. Und wie ich da lebe! Vielleicht ergibt sich für dich ja irgendwann die Gelegenheit, mich dort zu besuchen. Am besten so vor zwanzig, dreißig Jahren. Das war eine gute Zeit für deine Mutter und mich. Da besuchst du uns, ja? Versprochen?‹ – ›Wie soll denn das gehen, Vater?‹, fragte ich. ›Wenn ich dich je besucht hätte, wüsstest du doch davon.‹ – ›Was ist das für ein grässlich lineares Denken, Ailif!‹, erwiderte er kopfschüttelnd. ›Sei nicht so zaghaft, Junge. Streif die Ketten der Kausalität ab. Sie ziehen dich krumm und lähmen den Geist. Die Vergangenheit lebt, ja, sie pulsiert vor Leben! Die Menschen meinen, was in der Zeit zurückliegt, sei erledigt, abgestorben, erstarrt. Irrtum! Die Vergangenheit ist für die, die in ihr leben, prallvolle Gegenwart! Wenn du an meine Tür klopfst, Junge, machen wir ein frisches Fass Zeit auf und begründen ein nagelneues Universum.‹ Das sagte er, und zwei Tage später starb er. An Herzversagen.«
    Maurya schüttelte den Kopf. »Eine seltsame Auffassung. Aber ein Abschied, der nicht der Logik entbehrt und irgendwie tröstlich ist.«
    Â»So empfinde ich das auch. Ich stelle mir vor, dass er jetzt in seiner Zeit lebt und jeden Augenblick genießt. Ich weiß ihn dort in der Vergangenheit gut aufgehoben. Irgendwie.«
    Â»Und deine Mutter? Sie ist doch auch gestorben, nicht wahr?«
    Â»Ja. Und mein Bruder …« Ailif machte eine abwehrende Handbewegung und setzte sich auf. »Ich spreche nicht gern darüber.«
    Â»Du brauchst nicht …«
    Â»Das sind meine schrecklichsten Erinnerungen.« Ailif fuhr mit der geballten Faust über die Tischplatte, als drehe er einen alten Mühlstein. »Wir waren vierzehn, mein Bruder Batta und ich, Zwillinge, unzertrennlich. Aber ich hatte Grippe und musste im Bett bleiben. Er und Mutter gingen zum Weihnachtsbasar an der St.-Patrick-Kathedrale. Sie wollten noch ein paar Geschenke kaufen.«
    Â»O Gott, der Sprengstoffanschlag auf dem St.-Patrick-Markt! Ich erinnere mich. Ganz New Belfast war erschüttert und empört über diese furchtbare Bluttat.«
    Ailif zog das Ledermäppchen aus der Hemdtasche, in dem er immer zwei, drei Skalpelle stecken hatte, und holte ein kleines Stück durchsichtige Folie heraus.
    Â»Was ist das?«, fragte Maurya.
    Er reichte es ihr.
    Â»Der Leopard«, sagte sie. »Dein Sternzeichen?«
    Â»Unser Sternzeichen. Er hatte es in der Hand, als man ihn fand – das heißt das, was von ihm noch übrig war. Wahrscheinlich hatte er es gekauft, um es mir zu Weihnachten zu schenken.«
    Jonathan erhob sich vom Teppich, ging zu Ailif und legte ihm den Kopf aufs Knie. Ailif kraulte ihm die Ohren und hatte die Augen geschlossen. Maurya sah, dass er mit den Tränen kämpfte.
    Â»Und dein Vater?«, fragte sie.
    Â»Er war zu dem Zeitpunkt im äußeren System, bei den Eisauge-Monden. Er kam erst zwei Monate später nach New Belfast zurück. Schneller ging es nicht. Er war krank, als ich ihn wiedersah.« Ailif seufzte. »Er war damals schon schwer verstrahlt. Dreißig Jahre als Triebwerksingenieur auf Raumschiffen, das hinterlässt seine Spuren. Er war durchsiebt von Strahlung. Aber er hat seinen Beruf über alles geliebt. Natürlich hat er sofort abgemustert, um sich um mich zu kümmern.« Er zuckte mit den Achseln. »Der Schmerz saß tief in uns beiden, ich spüre ihn noch heute. Und den unbändigen Zorn auf den Täter. Aber der hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Man fand ein Bekennervideo. Ein blasses nichtssagendes Gesicht, das unter einer lilafarbenen Kapuze hervorgrinste. Ein Dutzendgesicht, austauschbar wie eine leere Patronenhülse. Eine drohend erhobene Faust und albernes frommes Gewäsch.« Ailif stand auf und ging zum Fenster; Jonathan wich nicht von seiner Seite. »›Jeder Gotteskrieger trägt sein Ziel in sich wie ein abgefeuertes Geschoss.‹ Und so weiter. Mein Zwillingsbruder und meine Mutter …« Er schüttelte den Kopf. »Es war schauerlich. Man hatte die Reste der Opfer zusammengetragen und in einer Sporthalle in der Nähe auf provisorischen Tischen aufgebahrt. Einhundertzweiundachtzig Tote. Ich fand Batta …« Ailif unterdrückte ein Schluchzen. Jonathan rieb den Kopf an seinem Knie. »Aber vom Becken abwärts war nichts

Weitere Kostenlose Bücher