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Dschiheads

Dschiheads

Titel: Dschiheads Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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Zähne klapperten und er nicht einschlafen konnte. Seine beiden Cousins, Daniel, so alt wie er, und Rupert, ein Jahr älter, beide gefräßig und feist wie ihre Mutter, nahmen auf ihre arrogante Art wenig Notiz von ihm, fläzten schnaufend auf dem Sofa vor dem Bildschirm, der die ganze Wand des Wohnzimmers einnahm, und knabberten geröstete Echsenschenkel oder stopften sich mit Süßigkeiten voll, die ihnen ihr Vater von seinen Fahrten mitbrachte.
    Wenn sie mit ihrer Mahlzeit fertig waren, bekam er seinen Teller vor die Tür gestellt. Er hatte Selma dabei beobachtet, wie sie Essensreste von den Tellern ihrer Söhne scharrte und für ihn warm machte. Nach Fleisch stocherte er vergebens, Daniel und Rupert gönnten ihm nichts. Und von der Nachspeise sah er auch nie etwas.
    Onkel Ernest, ein großer knochiger Mann Anfang fünfzig von auffallend dunkler Hautfarbe, arbeitete als Speisewagenkellner auf dem Sibirian . Er kam jede Woche für zwei Tage nach Hause, nachdem er den Kontinent von West nach Ost und wieder zurück durchquert hatte. Und immer brachte er einen Rucksack voller Lebensmittel mit, die er auf dem Tisch ausbreitete und die Selma schleunigst verschwinden ließ: Gemüsekonserven, Büchsenfleisch, Würstchen, Kekse, Chips. Übriggebliebene Verpflegung, versicherte er grinsend. Sein knochiges Gesicht hatte etwas Scheues, Duckmäuserhaftes, das gar nicht zu seiner hoch aufgeschossenen Figur passen wollte. Die verstohlenen Gesten, mit denen er seine Schätze hervorkramte, unterstrichen diesen Eindruck, ließen auf Beutemachen schließen, auf Raubzug. Wahrscheinlich klaute er die Sachen aus den Vorräten des Speisewagens.
    Selmas Augen leuchteten triumphierend, und ihre Lippen schmatzten, wenn sie die Beute in ihrem Küchenschrank verschwinden ließ. Manchmal fiel auch für Ailif etwas ab: ein paar Kekse oder Chips aus aufgeplatzten oder nass gewordenen Verpackungen.
    Als schließlich sein Vater kam und ihn erlöste, in seinem silbernen Overall unter dem dunkelblauen Uniformmantel mit den drei silbernen Sternen am Ärmel und auf den Schulterstücken, kam er ihm vor wie ein Ritter von König Artus’ Tafelrunde, der erschienen war, um ihn zu befreien.
    Â»Du sagst, du hast Unterhaltszahlungen für deinen missratenen Sprössling überwiesen?«, kreischte Selma und schürzte ihre lila geschminkten Schmatzlippen. »Die paar Kröten haben gerade für die Nägel in den Särgen gereicht.«
    Â»Meines Wissens hat die Kommune die Beerdigung bezahlt«, erwiderte sein Vater.
    Â»Die Beerdigung, ja, aber nicht die Särge. Und für deine Lieben haben wir« – Selma hob zwei ihrer verschwenderisch beringten Wurstfinger – »zwei Särge gebraucht, obwohl« – sie drehte den Daumen nach oben – »einer genug gewesen wäre bei dem, was von ihnen übrig war.«
    Â»Dein Mitgefühl ist überwältigend, Selma«, sagte sein Vater und fasste ihn an der Schulter. Ailif spürte, wie die Hand seines Vaters zitterte. »Komm, Junge, wir gehen.«
    Sein Vater hatte am Flughafen einen Elektroroller geliehen. Zusammen fuhren sie nun zum Friedhof. Das große Gemeinschaftsgrab war mit einer dicken Schicht aus stinkenden Blumen bedeckt, die gefroren und dann beim letzten Tauwetter verfault waren. Sie gingen daran entlang und betrachteten die Holztafeln, die wie aufgestellte Ruder aus der Erde ragten. Als sie die Namen gefunden hatten, verharrten sie schweigend. Ailif betrachtete seinen Vater von der Seite. Er hatte ihn größer und kräftiger in Erinnerung. War er geschrumpft? Er ging gebeugt, das abgehärmte Gesicht war wie versteinert, und auch Ailif fühlte einen schweren Stein, der quer in seiner Brust lag und ihn beklemmte, sodass er nur flach und zittrig Luft holen konnte. Er starrte schweigend in den fahlen Winterhimmel. Der Frühling würde noch eine Weile auf sich warten lassen, aber nun, da sein Vater zurück war, würde alles besser werden. Er hoffte das so sehr.
    Danach fuhren sie zu St. Patrick. Die einstige Kathedrale war schon vor Jahren in ein Museum umgewandelt worden, aber den Weihnachtsmarkt hatte man weiterhin auf dem Vorplatz abgehalten. Dort, wo sich der Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt und es die meisten Toten gegeben hatte, waren auf den Pflastersteinen dicke farbige Wachspfützen zu sehen – von den zahllosen Kerzen, die die Menschen

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