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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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geben?«
    Da erklärte Nakire ihm Folgendes: Wenn jemand einen Gegenstand einfach liegen lässt, ohne ihn zu bewachen, so bedeutet das in der Fayu-Kultur, dass er ihm sehr wenig wert ist und dass derjenige der berechtigte Eigentümer wird, der ihn findet. Und da Papa den Fayu gezwungen hatte, sein neues »Eigentum« aufzugeben, war er jetzt auch verpflichtet, es ihm zurückzuerstatten.
    Ganz schön kompliziert, zumindest für unsereinen. Papa lenkte ein, ging nach draußen und gab dem Fayu-Mann ein neues Buschmesser. Dies war der Anfang eines langen Lernprozesses. Wir alle sollten noch viele Dinge dieser Art zu akzeptieren und umzusetzen haben, denn nun, im Januar 1980, war es endlich so weit: Meine Familie siedelte um zum Stamm der Fayu.

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Teil 2
    Ein Tag im Dschungel
    E s scheint schwer vorstellbar, aber das Leben im Dschungel war bald gar nicht mehr so ungewohnt für uns. Wir entwickelten schnell eine Routine, in der sich wahrscheinlich jede Familie auf der Welt irgendwo wiedererkennt.
    Wenn ich morgens aufwachte, war es meistens schon hell draußen. Ich suchte mir schnell etwas zum Anziehen, dann wurde gemeinsam gefrühstückt und mit den Schularbeiten begonnen. Für mich war das immer die reinste Tortur. Andauernd schaute ich aus dem Fenster, lauschte dem Singsang der Fayu und dem Rauschen des Flusses, der an unserem Haus vorbeiströmte. Die Vögel und die Sonne lockten mich und schienen mir zuzurufen, ich solle doch nach draußen kommen. Ab und zu schauten auch meine Fayufreunde durchs Fenster herein und gaben mir mit Handzeichen zu verstehen, dass sie endlich mit mir spielen wollten. Doch Mama war in dieser Beziehung streng, und ich musste sitzen bleiben, bis alle Aufgaben zu ihrer Zufriedenheit erledigt waren.
    Oft versuchte ich sie zu erweichen: »Schau mal, da draußen ist Bebe, er macht ein ganz trauriges Gesicht … Ich glaube, er braucht mich!«
    »Und deine Englischaufgaben brauchen dich auch«, erwiderte meine Mutter trocken. »Bebe wird schon noch eine Stunde warten können.«
     
    Unsere Ausbildung folgte einem amerikanischen Korrespondenzprogramm, das Kindern aus westlichen Ländern, die jenseits der Zivilisation aufwuchsen, helfen sollte, schulisch halbwegs am Ball zu bleiben. Alle paar Wochen wurden unsere schriftlichen Aufgaben von einem Lehrer oder einer Lehrerin in Danau Bira auf freiwilliger Basis korrigiert. Wenn keine ausgebildeten Lehrer zur Verfügung standen, war immer irgendeiner der Ausländer bereit, dies zu übernehmen. Die einzelnen Fächer des Lernprogramms waren im Vergleich zu Europa oder Amerika natürlich stark limitiert. Wir hatten Mathematik, Geografie, Englische Grammatik und Geschichte.
    Später, als ich neun Jahre alt war, bekamen wir zum ersten Mal richtige Lehrer aus den USA . Sie blieben zwei Jahre in Danau Bira, um uns »Dschungelkinder« besser fördern zu können. Heute bewundere ich ihren Mut und ihre Disziplin. Ich weiß, dass sie es am Anfang mit der kleinen Gruppe verwilderter Kinder sehr schwer hatten. Doch schnell gelang es ihnen, ein gut funktionierendes und erfolgreiches System einzuführen: Immer wenn wir uns in Danau Bira aufhielten, um Essen und andere lebenswichtige Dinge wie Seife oder Kerosin zu besorgen, korrigierten sie unsere Schularbeiten und gaben uns neue Aufgaben mit, die bis zum nächsten Besuch erledigt sein mussten.
    Damals aber blieb mir der Sinn der Schule verborgen, und was ich sicherlich am meisten hasste, waren die Matheaufgaben. »Ich verstehe das einfach nicht!«, murmelte ich eines Tages wieder einmal wütend vor mich hin.
    Christian, der gerade fünf Jahre alt war, steckte seinen Kopf unter dem Tisch hervor, wo er sich mit der Verfolgung einer Spinne beschäftigte.
    »Sabine«, sagte er mit seiner piepsigen Stimme, »wir sind drei Kinder, und wenn Mama jedem von uns drei Bonbons gibt, dann sind das drei mal drei, und das ist neun.« Der Kopf verschwand wieder unter dem Tisch.
    »Und wo soll Mama so viele Bonbons herhaben?«, fragte ich schlecht gelaunt.
    Mama hatte alles mitgehört, war begeistert von Christians mathematischem Verstand und fragte ihn: »Christian, da sind fünf Vögel auf einem Baum, und der Jäger schießt einen runter. Wie viele sind dann noch übrig?«
    Der Kopf kam wieder unter dem Tisch hervor. »Gar keine«, hieß es prompt.
    »Warum das denn?«, fragte Mama erstaunt.
    Christian seufzte und antwortete: »Die sind doch alle weggeflogen, weil der Jäger mit seinem Gewehr viel zu viel Lärm gemacht hat.«

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