Dschungelkind /
war noch hell draußen, und doch schien sich eine unsichtbare Finsternis auszubreiten.
Ich schaute wieder hinaus, wo einzelne Männer begannen, mit den Füßen auf den Boden zu stampfen. Sie drehten sich im Kreis, und aus ihrem Mund kam ein Wort, das sie stets wiederholten: Sie schrien:
»Uwha, Uwha, Uwha«
… der Kriegsschrei! Bald darauf stimmten auch die anderen in den Schrei ein. Sie standen sich gegenüber, stampften mit den Füßen, ihre Pfeile bereits in die Bogen gespannt, und doch flog noch kein Geschoss. Dann fingen sie an zu laufen wie nach einer genau festgelegten Choreografie: Die beiden Gruppen liefen ungefähr hundert Meter voneinander weg, drehten sich um, stampften auf den Boden und liefen dann wieder aufeinander zu, bis sie nur ein paar Meter voneinander entfernt zum Stehen kamen. Sie stampften wieder auf den Boden, drehten sich wieder um und rannten in entgegengesetzte Richtungen. Dies wiederholte sich stundenlang, ohne dass sie müde wurden.
Der Kriegstanz
Vielmehr passierte etwas Unheimliches. Meine Erklärung dafür ist, dass sie sich in eine Art Trance versetzten. Nach und nach wurden ihre Bewegungen regelrecht schwebend, ihre Stimmen begannen sich zu ändern. Manche wurden ganz tief, andere extrem hoch.
»Uwha, Uwha, Uwha«,
stundenlang.
Nach einiger Zeit langweilte ich mich und holte mir ein Buch, das ich zu Ende lesen wollte. Ich hatte es fast fertig – da hörte ich einen Schrei zwischen den
Uwha-Uwha
-Rufen. Und dann noch einen … der Krieg hatte begonnen.
Nun ging alles ganz schnell. Wir hielten uns von den Fenstern fern, damit keiner der fliegenden Pfeile, die mit Leichtigkeit durch den Fensterdraht hätten eindringen können, uns traf und verletzte. Gott sei Dank ist dies nie passiert.
Später wurde es still. Die fremden Fayu bargen ihre Verwundeten, stiegen in die Kanus und paddelten fort. Papa war der Erste von uns, der nach draußen ging, um die Lage zu peilen und eventuell zu helfen. Nach einigen Minuten rief er Mama zu, dass alles sicher sei. Wir gingen alle nach draußen bis auf Judith, denn meine Schwester hatte sehr große Angst – und der Anblick, der uns erwartete, war auch alles andere als schön. Das ganze Dorf verharrte wie im Schockzustand, keiner sagte ein Wort. Einige bluteten aus Wunden, die Pfeile verursacht hatten. Zu unserer Erleichterung gab es immerhin keine Toten. Mama ging beherzt daran, die Verletzten zu verbinden; Papa und ich halfen ihr dabei.
Später kam es öfters vor, dass die Krieger nach einer Schießerei zu uns kamen, um sich verbinden zu lassen. Durch das tropisch heiße Klima konnten sich innerhalb weniger Stunden gefährliche Infektionen bilden, und aus diesem Grund starben viele, die nur leicht verletzt waren, mehrere Tage nach den Kriegen an infizierten Wunden.
Häuptling Baou war unverletzt, er saß ein Stück entfernt, abseits der restlichen Krieger, und starrte vor sich hin. Papa trat zu ihm und schaute ihn lange stumm an. Dann gingen wir wieder ins Haus … die Dämmerung hatte eingesetzt.
Wir hatten nun miterlebt, wie es aussah, wenn zwei Fayu- Gruppen aufeinander trafen und Krieg führten. An diesem Tag waren es die Sefoidi, die ihr Gebiet flussaufwärts hatten, und die Tigre, die direkt hinter unserem Haus siedelten – aber es hätte auch jede andere Kombination sein können. Wie viele Begegnungen dieser Art musste der Großstamm der Fayu bereits hinter sich haben, der einst Tausende von Menschen zählte und sich selbst zum Zeitpunkt unserer Ankunft fast ausgerottet hatte – bis auf gerade noch 400 Männer, Frauen und Kinder!
Es sollte nicht der letzte Kampf bleiben, den ich im Dschungel miterlebte. Aber es war das erste und letzte Mal, dass ich mit eigenen Augen Pfeile fliegen sah. Und wenn ich jetzt zurückblicke, kann ich mich seltsamerweise nicht erinnern, dass ich während der Kriege jemals Angst empfunden hätte – vielleicht im tiefen Vertrauen darauf, dass die Zukunft Besseres für die Fayu bringen würde.
Am Abend schenkten wir unserem Nachtgebet mehr Aufmerksamkeit als sonst. Als ich später im Bett lag, hinauf zum sternenübersäten Himmel schaute und dem Orchester der Frösche und Insekten lauschte, betete ich noch einmal – ein Gebet aus dem Herzen eines Kindes: Lieber Gott, gib den Fayu Frieden!
Tiersammlung, Teil I
K inder entwickeln im Laufe der Zeit ihre Hobbys, und genau das geschah auch im Dschungel.
Eines Tages kam Mama in die Küche und sah, dass ich den ganzen Tisch voll geladen hatte
Weitere Kostenlose Bücher