Dschungelkind /
wurde mir bewusst, dass dieses Gefühl des »Dazwischen«, das Jayapura in mir auslöste, nun mein Lebensgefühl und auch mein Problem war.
Mama, Christian und Judith waren bereits in der Stadt, während ich mit Papa die letzten Ferientage bei den Fayu auskostete. Papa fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihm flussaufwärts zu fahren. Natürlich hatte ich, und so machten wir uns auf den Weg zum Sefoidi-Stamm. Den Hügel hinunter und über den Sumpf gingen wir zum Boot, wo Tuare schon auf uns wartete. Mit ihm saß ich ganz vorn am Bug; wir waren dafür verantwortlich, eventuelle Gefahren wie schwimmende Baumstämme oder eine Unterwassersandbank möglichst früh anzusagen.
Es war herrlich auf dem Fluss, die Sonne in meinem Gesicht, die Natur um uns, der süße Duft. Da Mama nicht dabei war, gab Tuare mir ein Stück Zuckerrohr, und wir rissen die harte Haut mit den Zähnen ab, warfen sie ins Wasser und saugten den süßen Saft heraus. Wir schmatzten laut, der Saft lief an unseren Armen herunter, und bald waren wir über und über mit dem klebrigen Zeug bedeckt. Aber wir brauchten ja nur ins Wasser zu springen, und schon waren wir wieder sauber.
Der Motor dröhnte vor sich hin, die dichten grünen Urwaldbäume neigten sich tief über den kühlen Fluss. Eine wundervolle Ruhe kam auf einmal über mich, die ich immer seltener verspürte. In letzter Zeit war ich innerlich rastlos geworden. Der Dschungel war noch immer ein magischer Ort für mich, meine allererste Heimat, doch ich hatte das Gefühl, dass ich diese Heimat langsam verlor. Ich wollte sie mit aller Kraft festhalten, und doch, mit dem Vergehen der Zeit, entschlüpfte sie mir immer mehr.
Ich wusste nicht mehr genau, wer ich war und wo ich hingehörte. Die Zeit im Westen hatte mich stärker beeinflusst, als ich es zugeben wollte. Ich fühlte mich zerrissen zwischen dem Wunsch, ein Dschungelkind zu bleiben, und der immer näher rückenden Möglichkeit, eine moderne junge Frau zu werden.
Tuare riss mich plötzlich aus meinen Gedanken. Er rüttelte an meinem Arm und zeigte auf einen riesigen Baum am Ufer. Als ich genauer hinschaute, sah ich es: Tausende von kleinen schwarzen Punkten hingen an den Ästen.
»Kannst du dich erinnern? Haben die nicht gut geschmeckt?«, fragte Tuare.
»Ja. Oh, ja«, sagte ich, fast mehr zu mir selbst als zu ihm.
Plötzlich bewegten sich die kleinen Punkte, und in Sekundenschnelle war der Himmel mit Fledermäusen bedeckt. Ich schaute zu ihnen hinauf und fragte mich wieder einmal, warum ich mir denn so viele Gedanken machte. Dies war doch meine Heimat, mein Zuhause, meine Familie. Was konnte mir schon Schlechtes hier passieren? Es war doch alles so, wie es schon immer war, und es würde sich nichts ändern …
Ein paar Tage später musste ich zurück nach Jayapura, die Schulferien waren vorbei.
Beim nächsten Wiedersehen mit den Fayu hielt das seltsame Gefühl an. All meine Freunde waren da, um mich zu begrüßen, und ich freute mich sehr. Aber sie spürten auch, dass etwas nicht stimmte, und wussten nicht, was sie machen sollten. Und da ich es auch nicht wusste, beschloss ich, diese immer stärker werdenden Gefühle einfach zu ignorieren. Ich konzentrierte mich darauf, mein Leben im Urwald weiterhin so zu gestalten, als ob nichts wäre, als ob das Glück der Kindheit ungebrochen sei.
Das Baby ohne Namen
A uch wenn es schmerzte, dass ich nicht mehr so selbstverständlich eins war mit meinem Stamm, hatte dies doch einen Effekt, der mir heute zugute kommt: Es half mir, einen genaueren, erkennenden Blick auf die Kultur und die Bräuche der Fayu zu werfen, mit denen wir so selbstverständlich aufgewachsen waren.
Ich ging mit Fusai, Nakires Frau, Fische fangen. Sie hatte ein Netz aus Baumrinde geflochten, und ich folgte ihr in den Urwald. Ein kleiner Fluss drängte sich durch das Unterholz. Fusai stieg ins Wasser, legte das Netz aus, und kurze Zeit später war es voll mit reichem Fang.
Als wir nach einiger Zeit zurückkehrten ins Dorf, wartete Tuare schon aufgeregt auf mich und erzählte, eine Frau sei zu unserem Haus gekommen, deren Baby sehr krank war. Mama war nicht da, also war ich gefragt. Ich nahm das Baby auf den Arm, ein kleines Mädchen, nicht älter als ein paar Monate. Sie hatte hohes Fieber. Was tun?
Ich entschloss mich für das Naheliegendste: ein Bad, denn das Kind starrte vor Schmutz.
Ich füllte eine große Schüssel mit Wasser, das ich auf dem Herd gewärmt hatte. Aber als ich das Baby aufnehmen
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