DSR Bd 4 - Das Schattenlicht
im ersten Raum. So prachtvoll sie auch waren, Charles hatte nur Augen für ein einziges Gemälde: eine Szene, die einen dicken, kahlköpfigen Mann – den Priester Anen? – zeigte, der dastand und mit der einen Hand auf einen Stern am Himmel zeigte, während er in der anderen einen flachen Gegenstand hielt, auf dem eine Ansammlung von winzigen blauen Symbolen dargestellt war. Sowohl der Gegenstand als auch die Symbole waren Charles bekannt: Es handelte sich um die Meisterkarte.
»Sekrey!« , rief Shakir, seine Stimme war drängend und klagend. »Sie kommen.«
Charles ignorierte ihn und trat zum ersten und größeren der beiden Sarkophage. Er war aus rotem Granit und mit Meißelarbeiten reich geschmückt: Er wies ein stilisiertes Abbild seines Bewohners auf, das von Kopf bis Fuß mit Hieroglyphen verziert war. Charles wandte sich ab und ging zum kleineren Sarkophag, der aus weißem Kalkstein bestand und mit einem einzigen Streifen aus Glyphen dekoriert war, die man lotrecht in die Deckelmitte eingemeißelt hatte. »Öffnet ihn«, wies er die Arbeiter an.
»Sekrey!« , schrie Shakir, seine Stimme wurde schriller. »Sie jetzt kommen!«
»Öffnet ihn!«, befahl Charles.
Mit einigem Widerwillen bewegten sich seine fünf Helfer zu dem Sarkophag. Unter Einsatz ihrer Pickel und Schaufeln schafften sie es, die schwere Abdeckung ungefähr einen Zoll zu einer Seite zu schieben. »Öffnet ihn jetzt«, wies Charles sie an.
Seine Wörter wurden verschluckt vom plötzlichen Getöse und Geratter von Donner, das in die Stille des Grabmals hineinplatzte. Shakir verschwand in den anderen Raum, doch Charles wich nicht von der Stelle. »Öffnet ihn!«, schrie er und zeigte auf den großen Steinsarg.
Die Arbeiter schauten sich gegenseitig an und setzten widerwillig ihre Werkzeuge an. Es gelang ihnen, den Deckel ein paar weitere Zoll zu bewegen, als Charles eine merkwürdige Empfindung verspürte: nasse Füße. Er schaute nach unten. Eine suchende Schlange aus Wasser quoll durch die Tür. Sie hatte ihn bereits erreicht, wurde flacher und breitete sich über den Boden aus.
»Beeilung!«, rief Charles. »Macht ihn auf.«
Doch die Arbeiter hatten das Wasser gesehen. Sie warfen ihre Werkzeuge zu Boden und flüchteten aus dem Grabmal.
Charles steckte die Fackel in die Spalte zwischen Deckel und Seitenwand und schnappte sich den Pickel, der am nächsten lag. Dann begann er, an der schweren Abdeckung zu hebeln. Rasch fand er den richtigen Ansatz und schaffte es, die Lücke um etwa einen weiteren Zentimeter zu vergrößern. In der Zwischenzeit stieg das Wasser höher. Als die Spalte groß genug war, um seine Hand hineinzustecken, bedeckte das Wasser den ganzen Boden und schwoll rasch bis zu seinen Fußknöcheln. Charles setzte sein Werk fort. Er arbeitete verzweifelt und wie im Rausch, unter Anstrengung aller Nerven und Sehnen, und stützte sich mit aller Kraft auf den Handgriff des Pickels. Schweiß rann sein Gesicht herab und stach ihm in die Augen. Der massive Deckel verschob sich – sehr wenig nur, aber gerade genug.
Das Wasser, das in die Kammer eindrang, war jetzt über den oberen Rand seiner Schuhe angestiegen.
Charles schob seine Hand in den Sarkophag hinein und nahm die steifen, trockenen Konturen der in Leinen gewickelten Mumie wahr. Er hielt die Fackel so nah, wie er es glaubte, wagen zu können, doch er vermochte wenig zu sehen. Sein Tastsinn sagte ihm, dass es keine Gegenstände gab, die mit der Leiche seines Großvaters begraben worden waren. Er fühlte entlang des Brustkorbs und des Kopfes – da war nichts. Er steckte seine Hand unter die Mumie und entdeckte an einem Ende ein abgeflachtes Bündel, das in ein Tuch eingewickelt war. Seine Finger schlossen sich um eine Ecke dieses Gegenstands und zogen daran. Er tat dies ein zweites Mal und befreite so das Bündel; aber dabei fiel ihm die Fackel trudelnd zu Boden, wo sie mit einem Fauchen und Zischen von Dampf erlosch. Augenblicklich senkte sich eine stockdunkle Finsternis herab.
Charles umklammerte das Bündel und bewegte sich mithilfe seines Tastsinns zum Fuße des Sarkophags. Wie ein Blinder, der mit seiner Hand vor sich umherwedelte, ertastete er sich den Weg zu der gezackten Öffnung in der Wand. Als seine Finger die Kante umklammerten, seufzte er leise vor Erleichterung auf. Er trat durch die Öffnung und verlor den Halt auf dem Schutt, mit dem der Boden vor der Bresche übersät war. Kopfüber fiel er in den nächsten Raum und in das Wasser, das mittlerweile den
Weitere Kostenlose Bücher