DSR Bd 4 - Das Schattenlicht
Dunkelheit im Inneren des Hauses auf, und Cass fand sich in der Gegenwart einer wunderschönen jungen Frau wieder. Gekleidet war sie in einem langen Kleid aus gleißendem blauem Satin, das am Hals, an den Handgelenken und am Saum in cremefarbener Spitze eingefasst war. Ihr langes rostbraunes Haar ergoss sich in Fülle über ihre schmalen Schultern. Ein Ausdruck ernsthaften Interesses zeigte sich auf ihrem hübschen Gesicht, als sie in das Licht trat, das die Öllampe verströmte.
»Eine Bettlerin, die Sir Henry sucht, Mylady«, intonierte der Diener steif; seine Hand war immer noch an der Tür. »Ich habe sie unterrichtet, dass Seine Lordschaft sich nicht hier aufhält. Sie ist gerade im Begriff, wieder zu gehen.«
»Selbstverständlich«, erwiderte die junge Frau. Dann wandte sie sich Cass zu und sagte: »Es ist wahr, mein Onkel ist gegenwärtig nicht zu Hause. Vielleicht kann ich Euch einen geringfügigen Dienst erweisen? Ist es ein Essen, das Ihr wollt? Oder Arbeit?« Sie lächelte sanft. »Vergebt meine Offenheit, ich bitte Euch. Ich bin Lady Fayth.«
VIERTES KAPITEL
E inen langen Moment starrten sich die zwei jungen Frauen gegenseitig an, während allmählich ein Zeichen des Wiedererkennens in ihren Augen aufflackerte: Jede sah in der anderen etwas, das ausschließlich eine Ley-Reisende erkennen konnte. Für Lady Fayth waren es nicht die verschrammten Schuhe und die staubige Kleidung der jungen Frau auf ihrer Schwelle – auch nicht die merkwürdige Art, das hochsprachliche Englisch zu reden, was die Besucherin mit der gleichen schwerfälligen Betonung und Satzbauweise tat wie Kit und Wilhelmina: Es war mehr eine Haltung, eine spezielle Eigenschaft, etwas erlebt zu haben und ein Geheimnis zu besitzen. Das Ley-Reisen selbst schien einen Hauch von Energie zu übermitteln, den andere Besucher fremder Welten spüren konnten.
Haven wusste, ohne es gesagt zu bekommen, dass das nachlässig gekleidete Geschöpf vor ihr eine Kameradin war, was Ley-Reisen anbelangte. Trotzdem war sie nicht bereit, jetzt schon einer Fremden Zugang zur geheimen Schwesternschaft zu gewähren. »Bitte vergebt mir meine unhöfliche Mutmaßung«, sagte Lady Fayth, »doch in welcher Form seid Ihr mit meinem Onkel bekannt?«
»Mir wurde Sir Henrys Name von einem gemeinsamen Freund gegeben – von Mr Brendan Hanno. Möglicherweise kennt Ihr ihn?«
»Ich muss bekennen, dass ich noch nicht das Privileg gehabt hatte, die Bekanntschaft mit diesem Gentleman zu machen«, erwiderte Lady Fayth. »Habe ich das so zu verstehen, dass dieser Mr Hanno ebenfalls ein Freund von Sir Henry ist?«
»Ich verstehe es so, dass sie in der Tat sehr gute Freunde sind«, antwortete Cass, die bemüht war, sich einer archaischeren Redeweise anzupassen. »Sie sind Mitglieder und Kollegen bei der Zetetischen Gesellschaft. Ich bin hier, um diese Gesellschaft in einer Angelegenheit von einiger Bedeutung zu vertreten.«
»Tatsächlich?« Die junge Frau beglückte Cass mit einem durchdringenden, abschätzenden Blick, dann – als würde sie den Entschluss fassen, ihre Besucherin zu akzeptieren – öffnete sie die Tür ein wenig weiter. »Ich bin Haven Fayth, Sir Henrys Nichte. Mir ist es zugefallen, während der Abwesenheit meines Onkels dieses Haus zu führen.«
Cass, deren letzte Kraftreserven knapp wurden, schwankte auf ihren Füßen, als Haven zu Ende gesprochen hatte.
»Oh, meine Liebe!«, rief Haven aus. »Ihr müsst mich für sehr barbarisch halten. Ich kann sehen, dass Ihr eine sehr große Wegstrecke gereist seid. Ich nehme an, Ihr seid völlig ermattet.«
Cass nickte. »Ihr seid wirklich sehr liebenswürdig. Und ja, ich bin auf einem … einem unglaublich langen Weg hierhergekommen.«
»Es ist nicht billig, dass wir hier auf den Stufen stehen und wie die Fischweiber schwatzen«, erklärte Lady Fayth leichthin. »Ihr müsst hereinkommen und mir die Ehre gestatten, Euch Beistand anzubieten.« Sie wandte sich Villiers zu, der stumm bereitstand, und befahl ihm: »Die Tafel für heute Abend ist mit einem zusätzlichen Platz herzurichten. Und bring unverzüglich Wein und Käse in die Bibliothek.« Anschließend nahm sie dem Verwalter die Lampe aus der Hand und drehte sich ihrem Gast zu. »Bitte folgt mir, wenn es Euch recht ist, Cassandra. Erholung und Erfrischungen stehen zur Verfügung.«
Lady Fayth führte Cass mit hoch erhobener Lampe in das höhlenartige Innere des großen Hauses. Sie schritten einen Gang entlang, der in bedrückende abendliche Schatten
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