DSR Bd 4 - Das Schattenlicht
Anen immer noch hier ist.«
»Thutmosis«, sagte Xian-Li, »mein Sohn möchte gern wissen, ob Anen immer noch im Tempel wohnt.«
Das Lächeln des bärtigen Befehlshabers weitete sich zu einem Grinsen. »Wo sonst sollte der Hohe Priester angetroffen werden – als in seinem Tempel?« Thutmosis gab den anderen Wachen einen Befehl, die sich daraufhin widerwillig zu zerstreuen begannen. »Kommt, ich werde euch mitnehmen, damit ihr ihn treffen könnt. Ich weiß, er wird erfreut sein, euch zu sehen.«
»Es ist nicht nur so, dass Anen hier ist«, sagte Xian-Li zu ihrem Sohn. »Er ist nunmehr der Hohe Priester. Ich glaube, in dieser Welt sind ein paar Jahre verstrichen, seitdem du hier gewesen bist.«
Sie wurden zu einem der größeren Gebäude auf dem Gelände geführt: einem niedrigen, viereckigen Bauwerk mit roten Säulen und mit einer großen Statue von einem Mann im Schurz, der einen königlichen Halskragen, Armbänder und eine Krone trug, die von einer Kugel und zwei gigantischen Federn überragt wurde. Der Schurz war echt – ebenso wie der Halskragen und die Armbänder, die aus Gold gemacht waren. Als sie sich dem Eingang zu diesem Gebäude näherten, tauchten zwei Priester in weißen Gewändern auf, die eine Gruppe junger Knaben mit glatt rasierten Köpfen führten. Die Jungen begafften die Fremden, doch die Priester gingen vorbei, ohne auch nur einen Blick auf sie zu werfen. Ein dritter Priester stürzte heraus und trieb in seiner Hast die Gruppe auseinander.
Als er die Fremden erblickte, stieß er einen freudigen Schrei aus, breitete rasch die Arme aus und eilte ihnen entgegen. Er sagte etwas in Kemet, doch erst als er Benedicts Namen aussprach, erkannte der junge Mann ihn wieder. Er war älter, sein rasierter Haarflaum nunmehr weiß; auch war er fetter, mit einem fülligen, runden Gesicht und Bauch sowie dicken Beinen – doch es war Anen, der Hohe Priester höchstpersönlich.
Es stimmte, was seine Mutter gesagt hatte. Für Benedict war seit seinem tragischen Besuch nur ein Jahr vergangen – es hatte so lange gedauert, die Angelegenheiten des Nachlasses im Anschluss an den Tod seines Vaters zu ordnen, und seine Mutter hatte die Zeit benötigt, um sich darauf vorzubereiten, dass sie zurückkehren würden. Es schien jedoch, dass für die Ägypter in der Zwischenzeit viele Jahre verstrichen waren. Sein Vater – dessen war sich Benedict bewusst – wäre in der Lage gewesen, diesen Zeitabstand einzuschränken, sodass sie innerhalb weniger Tage nach seinem letzten Besuch hier hätten ankommen können. Betrüblicherweise fehlte Benedict diese Fähigkeit, und aufgrund seines Schwurs, das Ley-Reisen aufzugeben, wenn seine letzte Aufgabe abgeschlossen war, würde er jetzt niemals über eine solche Fertigkeit verfügen.
»Man hat mir erzählt, dass die Frau und der Sohn meines lieben Freundes Arthur gekommen sind, und mein Herz ist vor Freude in mir gesprungen«, erklärte Anen. »Xian-Li! Benedict! Möge der Frieden dieses Hauses eure Seele trösten, und möge euer Aufenthalt in diesem Land viele Früchte tragen.«
Von diesen Worten verstand Benedict lediglich seinen Namen; den Rest übersetzte ihm seine Mutter, die danach erwiderte: »Der Friede Gottes segne deine Seele, und möge seine Weisheit dir Trost spenden –« Das war alles, was sie herausbekam, bevor sie von einer freudigen Umarmung eingehüllt wurde. Dann war Benedict an der Reihe, und bevor er es recht wusste, wurden sie in das Wohnhaus des Hohen Priesters geführt.
»Anen, mein Freund, es ist die reine Freude, dich wiederzusehen. Die Jahre sind gut zu dir gewesen«, sagte Xian-Li, als sie im Audienzzimmer Platz nahmen.
Dieses war, wie viele der Räume in ägyptischen Palästen, an einer Seite offen, was der Luft ermöglichte, durch Vorhänge zu zirkulieren, die dünn wie Gaze waren und in blauen und weißen Streifen herabhingen. Ein Teich draußen kühlte die Luft ein wenig, und Dattelpalmen und wohlriechende Jasminsträuße spendeten dem privaten Hof des Hohen Priesters Schatten. Tempeldiener legten Tabletts mit getrockneten Feigen, Datteln und Melonenscheiben vor und reichten winzige Becher mit Wasser herum, in das man Anis und Honig gegeben hatte. Benedict trank in kleinen Schlucken und übernahm die Rolle eines Betrachters; er schaute zu, wie seine Mutter und Anen glücklich miteinander plauderten: Die Besorgnis und der emotionale Aufruhr ihrer Rückkehr nach Ägypten waren vergessen, zumindest für den Augenblick.
Schließlich wandte sich
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