Du bist das Boese
er kalte Wut in sich aufsteigen, die Wut, die er nach jener Januarnacht auf dem Hügel des Schäfers verdrängen und vergessen wollte.
In vierundzwanzig Jahren werden Lucia und Ciro noch keine Gerechtigkeit erfahren haben, genau wie Giovanna Sordi.
Abend
Balistreri schlug Ispettore Coppolas Kalender auf, als sie bei Sonnenuntergang auf Lindas Dachterrasse saßen und er ein Schlückchen Weißwein trank. Linda trank wie immer Wasser und schien weit weg in Gedanken.
Der Zwerg war ein akkurater Mensch gewesen. Unter den Tagen hatte er auch noch die Uhrzeiten der Ereignisse notiert. Der Kalender war von 2006 und wie neu, doch in den ersten drei Tagen des Jahres hatte der Zwerg einiges vermerkt. Der letzte Eintrag stammte vom 4. Januar um acht Uhr abends, gleich nachdem Coppola den Auftrag erhalten hatte, Colajacono zu überwachen.
»B. von Carmen berichten. Cabot anrufen. Zweites Gespräch mit Carmen hat etwas Interessantes zum Vorschein gebracht.«
Die Notiz hatte der Zwerg gemacht, als er an diesem elenden Abend aus Balistreris Büro gekommen war.
Hinten im Kalender standen Telefonnummern, säuberlich notiert. Er fand sofort, wonach er suchte. Wenn er an Ciro und Lucia dachte, die nun allein in diesem Haus wohnten, war er immer noch wütend. Sonst wäre er nicht so unvorsichtig gewesen, sein privates Handy zu benutzen.
Eine fremde Stimme antwortete nach dem ersten Klingeln. »Ja, hier ist Carmen.«
»Guten Tag, mein Name ist Balistreri. Ich bin von der Polizei. Mein Kollege Coppola, der im Januar …«
»Ich weiß, wer Sie sind«, unterbrach ihn die junge Frau. »Die Zeitungen haben damals viel darüber geschrieben. Das mit Coppola tut mir leid.«
»Danke, ich bräuchte Ihre Hilfe. Am Tag seines Todes war Coppola noch bei Ihnen.«
»Ja, ich erinnere mich an den Ärmsten. Er hat mir erzählt, dass sein Sohn abends ein Basketballspiel hat.«
»Genau. Leider hatte er nicht mehr die Gelegenheit, mir von Ihrem Gespräch zu berichten, und ich wüsste nun gern, ob …«
»Hören Sie, ich würde Ihnen ja wirklich gern helfen, aber das ist schon so lange her. Jedenfalls konnte ich nicht viel mehr sagen bei unserem ersten Gespräch.«
Ihm war bewusst, dass Linda zuhörte.
»Versuchen Sie sich doch bitte noch einmal zu erinnern. Ich hatte ihn gebeten, mit Ihnen über das Telefonat zu sprechen, das Ihr Freund und Sie in jener Nacht geführt haben, bevor …«
»Bevor dieser Bastard mit dem Motorrad ihn umgebracht hat«, half sie ihm auf die Sprünge.
»Ich möchte nur ganz sicher sein, was den zeitlichen Ablauf betrifft.«
»Das hab ich doch schon tausendmal gesagt, er hat mich um zwei Uhr vierzehn angerufen. Das geht auch aus der Anrufliste von meinem und von Papas Handy hervor. Er hat angerufen, weil er mich beruhigen wollte. Er müsse oft pinkeln, habe aber wohl kein Fieber. Ich hab ihn gefragt, ob er einen ruhigen Abend habe. Er sagte Ja, aber dann erzählte er mir von diesem Idioten, der mit dem Motorrad vorbeigefahren sei und ihn grundlos beschimpft habe.«
»Haben Sie denn nicht gefragt, ob er noch mehr Ärger mit diesem Typen hatte?«
»Doch, aber er meinte, sonst sei nichts weiter passiert.«
»Und was hat er noch gesagt?«
»Sonst kann ich mich an nichts erinnern.«
»Das Telefonat dauerte zweieinhalb Minuten. Hat er Ihnen den Motorradfahrer nicht beschrieben?«
Ein Augenblick der Ratlosigkeit. »Nein, das hat Coppola mich letztes Mal auch gefragt. Papa sagte nur, das Ganze sei irgendwie komisch gewesen, und der habe einen Integralhelm getragen.«
»Warum komisch? Wenn er einen Integralhelm aufhatte, konnte er ihn doch gar nicht sehen.«
»Das Motorrad war komisch, nicht der Typ.«
»Wie meinte er das?«
»Er sagte nur komisch. Sonst nichts. Und dass er einen Integralhelm aufhatte.«
Balistreri beendete das Gespräch und dachte nach. Er brauchte nicht lang, um Coppolas Bericht über die Vernehmung von Fred Cabot auf seinem Palm zu finden. Als er sie jetzt noch einmal las, merkte er, dass sie sehr knapp gehalten war. Wahrscheinlich war Coppola auf sprachliche Hürden gestoßen und hatte ein bisschen improvisiert. Cabot hatte von einem Motorradfahrer mit Helm und einer großen Maschine gesprochen, wendig, aber schnell. Die Adjektive ließen ihn aufhorchen. Drei Adjektive waren viel. Entweder hatte Coppola übertrieben oder Cabot kannte sich gut mit Motorrädern aus. Er fragte sich, welche Ausdrücke er wohl verwendet hatte. Big oder large für groß? Easy oder handy für wendig? Speedy oder
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