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Du bist das Boese

Du bist das Boese

Titel: Du bist das Boese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Costantini
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Balistreris Blick fiel auf eine Überschrift, die neben den Interviews mit den Fußballhelden fast unterging. Um dem Volk nicht den Spaß zu verderben, hatte man sie in der untersten Ecke versteckt: »Die beiden Weltmeisterschaften und ihre Tragödie«.
    Er stand auf und trat an den Nebentisch. »Verzeihung«, sagte er zu dem Vater, der immer noch in die Lektüre vertieft war.
    Der blickte verärgert auf, weil er dachte, dass ihm schon wieder irgendein Afrikaner etwas andrehen wolle. Als er das typisch italienische Gesicht sah, wurde sein Blick etwas sanfter.
    »Ja?«, fragte er, immer noch leicht genervt.
    »Ach nichts, Entschuldigung«, sagte Balistreri, der inzwischen am anderen Ende des Platzes einen offenen Kiosk entdeckt hatte.
    Unter Lindas überraschtem Blick zog er los, um sich den Corriere dello Sport zu kaufen.
    Der Zeitungsverkäufer lachte. »Jetzt noch? Tut mir leid, Signore, heute war schon um zehn alles ausverkauft.«
    »Und eine andere Zeitung?«
    »Heute schreiben alle über die Nationalmannschaft. Nichts mehr da.«
    Balistreri ging wieder zu dem eifrigen Leser am Nebentisch.
    »Hören Sie, ich brauche Ihre Zeitung. Ich zahle Ihnen zehn Euro.«
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Diese Ausgabe ist unverkäuflich, die häng ich mir für die nächsten fünfzig Jahre an die Wand. Sind Sie nun Italiener oder nicht? Da hätten Sie auch früher dran denken können.«
    »Gut. Hören Sie, ich lese nur kurz den Artikel, der mich interessiert, dann bekommen Sie Ihre Zeitung zurück.«
    Der Mann wurde neugierig. »Was wollen Sie denn lesen?«
    Balistreri zeigte auf die Überschrift.
    »Wen interessiert denn an einem so schönen Tag eine solche Nachricht?«
    Balistreris Blick ließ ihn einlenken. »Die Seite können Sie ruhig haben, da kann ich drauf verzichten«, sagte er, um ihn endlich loszuwerden.
    Balistreri saß mit Linda mitten auf dem mit fröhlichen Menschen bevölkerten Platz und las.
    » Die beiden Weltmeisterschaften und ihre Tragödie. Giovanna Sordi hat sich gestern Abend mit einem Sprung vom Balkon ihres Hauses das Leben genommen. Genau wie ihre Tochter Elisa, die vor vierundzwanzig Jahren am Tag des italienischen Siegs bei der Weltmeisterschaft in Spanien barbarisch ermordet wurde, starb die betagte Frau, als die Azzurri den WM -Pokal in die Höhe reckten. Ein grausamer Zufall, oder hat der erneute Sieg unserer Nationalelf unerträgliche Erinnerungen in ihr geweckt? Der Fall Elisa Sordi, der damals wochenlang die Schlagzeilen beherrschte, konnte in all den Jahren nicht aufgeklärt werden. Eine offizielle Mordanklage hat es nie gegeben. Die große Freude so vieler unserer Mitmenschen heute wird leider von diesem ungeheuer tragischen Einzelschicksal getrübt.«
    Viel zu sensibel, dieser Journalist. Der kurze Artikel ist dem Herausgeber wohl durchgerutscht.
    Ein stechender Schmerz im Magen. Anders als der Schmerz, den er seit Jahren kannte. Er schien nicht mal vom unteren Teil der Speiseröhre herzurühren, sondern von ganz woanders her, aus der Tiefe, fern und zwingend.
    Er zündete sich eine Zigarette an und dachte an die Eltern von Elisa Sordi. Einfache Menschen, ein Arbeiter im Vorruhestand und eine Kellnerin. Er erinnerte sich, wie aufdringlich er ihre Beharrlichkeit während des WM-Finales fand. Er erinnerte sich auch an ihre gesittete Verzweiflung nach dem Fund von Elisas Leiche und daran, dass Signor Amedeo fortan jeden Morgen in die Mordkommission kam, um nach den neuesten Erkenntnissen zu fragen. Stundenlang saß er schweigend in seiner Ecke und las die Unità . Niemand beachtete ihn noch groß. Zwei Jahre ging das so. Dann hat ihm wohl jemand, vielleicht sogar sein Anwalt, höflich zu verstehen gegeben, dass er damit nichts erreichen würde und außerdem auch ein wenig störte.
    Giovanna Sordi hatte vierundzwanzig Jahre lang darauf gewartet, dass ihr jemand sagte, wer ihr Elisa genommen hatte, und warum. Als ihr der WM-Sieger Italien nach vierundzwanzig Jahren dann antwortete, nein, das würde man nie erfahren, da machte sie Schluss.
    Er versuchte, Angelo anzurufen. Linda beobachtete ihn. Die vertikale Falte zeichnete sich klar auf ihrer Stirn ab. Angelo nahm das Gespräch nach dem ersten Klingeln bestens gelaunt entgegen.
    »Hast du die Knallerei gut überstanden, Michele?«
    Er las ihm den Artikel vor. Ein langes Schweigen breitete sich aus. Dann beendete Angelo Dioguardi das Gespräch grußlos.

Dienstag, 11. Juli 2006
    Vormittag
    Er hatte diesen Besuch schon viel zu lang vor sich

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