Du bist das Boese
Messe in ihrer Gemeinde. Schließlich Beichte ohne jede Sünde außer der üblichen, für die ihr der alte Priester, ohne ihr eine Buße aufzuerlegen, die Absolution erteilte.
Herr, sag mir wenigstens, wer es war.
Abend
Als sie durchs Zentrum von Rom bummelten, hatten sie das Gefühl, auf dem Mond zu sein. Sogar ahnungslose Touristen, die sich noch nie in ihrem Leben ein Fußballspiel angesehen hatten, zog es auf die Plätze, wo das Finale auf riesige Leinwände übertragen wurde. Die vollkommene Stille in den ausgestorbenen Straßen wurde nur hin und wieder von kollektiven Ausrufen unterbrochen. Der Spielverlauf, das Unentschieden und der Beginn der Nachspielzeit waren nicht zu überhören.
Für Michele Balistreri und Angelo Dioguardi gingen diese akustischen Eindrücke Hand in Hand mit einer Empfindung, die mit dem Spiel nichts zu tun hatte. Sie liefen schweigend nebeneinander her, und je länger sie gingen, desto eindringlicher kam die Erinnerung zurück. Langsam, subtil und unerbittlich türmte sie sich auf wie dichter, lockerer Schnee an einem Winterabend. Fast zwei Stunden lang sogen sie, ohne ein Wort zu sagen, die überwältigende, unvergleichliche Schönheit der stillen Altstadt in sich auf.
Als das Endspiel mit dem Elfmeterschießen dem Höhepunkt des Nervenkitzels entgegenging, kamen sie fahl und erschöpft vor Linda Nardis Haus an. Während Millionen von Menschen ringsum den Atem anhielten, rauchten sie eine letzte Zigarette, so lang wie vierundzwanzig Jahre. Dann strömten die hysterischen Massen auf die Straßen, und Balistreri und Dioguardi rannten die Treppe hoch. Sie flüchteten sich auf Lindas Terrasse und sahen zu, wie unter dem tosenden Lärm von Böllern und Raketen der Freudentaumel losbrach.
Während wir uns in einem Durcheinander wie diesem zudröhnten, hat das Monster sie massakriert.
Ein Zischen in der Nähe ließ Balistreri herumfahren. Eine weiße Linie schoss kerzengerade in die Höhe, um jeden Augenblick in tausend Farben zu zerspringen. An einem gewissen Punkt im Himmel angelangt, kam sie aber nicht weiter und erlosch.
Montag, 10. Juli 2006
Nachmittag
Es wurde eine lange durchfeierte Nacht, gefolgt von einem Tag endloser Plaudereien und großer Schlagzeilen. Sogar vor Friedhöfen und Krankenhäusern wurden die Trikots der Weltmeister verkauft. Kaum jemand arbeitete, und wer es dennoch versuchte, wurde schief angeguckt. Um sich vom hirnlosen Geschwätz im Büro zu erholen, ließ Balistreri sich am späten Nachmittag von Linda zu einem Spaziergang überreden.
Nach einer halben Stunde verlangten sein ramponiertes Bein und sein Alter nach einer Pause und einem guten Kaffee. Sie setzten sich in eine Bar auf der Piazza Navona.
Am Nebentisch saß eine Familie mit zwei Teenagern. Balistreri hörte die Mutter aus einem Touristenführer vorlesen: »Die Piazza Navona entstand im ersten Jahrhundert nach Christus, zunächst nicht als Platz, sondern als Stadion …«
»Hat da wenigstens Lazio Rom gespielt?«, murrte der Sohn mit Schokogebäck im Mund.
Die Mutter fuhr unbeirrt fort mit der Geschichte von Berninis Vierströmebrunnen. Die Statue, die den Rio de la Plata verkörpere, erklärte sie, sei mit abwehrend erhobener Hand dargestellt, um sich vor dem Anblick der gegenüberliegenden Chiesa di Sant’Agnese, die Berninis Erzrivale Borromini erbaut habe, zu schützen. »Die ist aber auch echt hässlich«, kommentierte die Tochter und wischte sich mit dem Handrücken Creme vom Mund.
Irgendwann standen die Teenies wortlos auf und bestaunten die Designershirts und die neuesten iPods und Handymodelle in den Schaufenstern. Die Mutter legte den Stadtführer hin und musterte ihren Mann, der hinter seinem Corriere dello Sport in einen Artikel über den grandiosen italienischen Triumph vertieft war. »Verdammt, und das lässt du den beiden durchgehen …« Er senkte nicht einmal die Zeitung. »Du hast die Kinder doch erzogen. Ich bring nur das Geld nach Hause.«
Die beiden Espressi wurden ihnen mit zwei Gläsern Wasser serviert. Diese Tradition wurde nur noch in wenigen Bars gepflegt, aber Balistreri mochte sie. Es erinnerte ihn daran, wie die Mabruka im Büro dafür gesorgt hatte, dass sein Vater an diesem Ritual festhalten konnte. Papa hatte sich, ohne von seinen Papieren aufzuschauen, mit einem leichten Nicken bedankt, hatte einen Schluck Wasser getrunken und dann erst den Kaffee.
Nebenan hatte der sportbegeisterte Vater die Zeitung jetzt auf den Tisch gelegt, las aber weiter.
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