Du bist das Boese
Entsetzen aufgerissen. Sie war bekleidet, aber ihre Leggings waren bis zu den Oberschenkeln runtergezogen. Vom Bauchnabel senkrecht hinab bis zum Schambein war der Buchstabe I eingeritzt.
Donnerstag, 20. Juli 2006
Vormittag
Die folgenden Nächte verbrachte Balistreri abwechselnd vor dem Fernseher und am Wohnzimmerfenster. Mit Zigaretten und Whisky, inzwischen völlig unkontrolliert. Schlaflosigkeit. Düstere Gedanken zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der normale Alltag, an den Linda Nardi ihn einige Monate lang gewöhnt hatte, erschien ihm nun wie der letzte Moment des Friedens in seinem Leben, der endgültig gescheiterte Versuch zu vergessen, wer Michele Balistreri wirklich war, damit er sein Leben im Einklang mit all den schlimmen Erinnerungen würde beschließen können. Wütend vertrieb er diese Gedanken, doch sie kamen immer wieder.
Als im Morgengrauen der nächste Sommertag anbrach, war er vollkommen zerschlagen vom Grübeln, Rauchen und Trinken. Unrasiert, die Augen gerötet und noch nachlässiger gekleidet als sonst, alles wegen Linda und dieser anderen Obsession, dem Unsichtbaren.
Ein Serienmörder, der seinen Opfern Buchstaben einritzt, oder ein Komplott meiner einstigen Kollegen vom Geheimdienst? Wen verfolge ich? Zwei Schatten, die sich übereinanderlegen und wieder auseinanderfallen, wie zwei Gespenster. Oder ist es doch nur einer?
Der besonnene, leicht depressive Polizist war mittlerweile das reinste Nervenbündel und ähnelte zunehmend einem Alkoholiker oder Penner. Corvu und Piccolo verteidigten ihn unermüdlich gegen die höhnischen Bemerkungen, die in den Büros der Squadra mobile die Runde machten. Die Sondereinheit war dort ohnehin nie richtig akzeptiert worden, und nun war ihr Chef, von übler Nachrede verfolgt und von argwöhnischen Politikern und neidischen Kollegen verhasst, ganz unten angekommen.
Auch Pasquali verteidigte ihn beharrlich, gemeinsam mit Polizeipräsident Floris. Drei Tage lang herrschte ein infernalischer Medienrummel. Glücklicherweise kam kein Journalist auf die glorreiche Idee, den Fundort von Selina Belhrouz’ Leiche mit Pasqualis Landsitz in Verbindung zu bringen. Aber Balistreri kannte Pasquali gut genug, um zu wissen, wie sehr entsprechende Befürchtungen an ihm nagten.
Die Information, dass den beiden jüngsten Opfern Buchstaben eingeritzt worden waren, gelangte nicht an die Presse. Floris und Pasquali drohten mit so scharfen Repressalien, dass nicht einmal an den üblichen undichten Stellen etwas durchsickerte.
So kam auch niemand auf die Idee, einen Zusammenhang zwischen den beiden Delikten herzustellen. Aufgrund der Ähnlichkeit der Fundorte wurde der Mord an Selina Belhrouz zwar mit dem an Nadia verglichen, dennoch zweifelte kein Mensch an der Schuld des inhaftierten Vasile. Am lautesten erhoben sich die kritischen Stimmen zum Tod von Ornella Corona. Eine attraktive italienische Signora in ihrem Haus am Meer ermordet, einfach so, vermutlich von einem gewöhnlichen Einbrecher, den sie im Garten erwischt hatte und der sie auch noch vergewaltigen wollte. Obendrein hatten Zeugen einen Mann beobachtet, der sich nach der Abendessenszeit an der Villa herumgetrieben und telefoniert hatte, in einer osteuropäischen Sprache, höchstwahrscheinlich Rumänisch.
Die ersten Ergebnisse von Spurensicherung und Rechtsmedizin waren recht eindeutig. In beiden Fällen konnten weder Fingerabdrücke noch organisches Material an den Opfern nachgewiesen werden. Schon das sagte alles über die müßigen Spekulationen zu einem ertappten Einbrecher. Wer mit Operationshandschuhen und Sturmhaube in ein Haus einsteigt, hat Übleres im Sinn als einen schlichten Diebstahl. Des Weiteren wurden in keinem der beiden Fälle Anzeichen für sexuelle Gewalt festgestellt. Allerdings gab es auch deutliche Unterschiede.
Selina Belhrouz hatte man überfallen, an einen entlegenen Ort verschleppt, gefesselt, entkleidet und misshandelt, aber sie war nicht vergewaltigt worden. Ihre Handtasche samt ihrer persönlichen Habe und ihrem Handy war verschwunden. Nach einem Raubüberfall sah es trotzdem nicht aus. Die Frakturen, Blutergüsse und Brandspuren von Zigaretten sprachen vielmehr für die Tat eines Sadisten oder für ein Verhör. Als sie stranguliert wurde, war sie schon nicht mehr bei Bewusstsein.
Ornella Corona hatte nach ihrer Rückkehr vom Strand und kurz vor ihrem Tod einvernehmlichen Sex gehabt. Danach war sie, möglicherweise von Geräuschen angelockt, in den Garten gegangen und dort
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