Du bist das Boese
viel zu sehen, außer der Leiche unter dem Tuch. Den Rest würde die kriminaltechnische Untersuchung ergeben. Der Verwesungsgeruch war sehr stark, weshalb alle Masken trugen. Auch Balistreri und Corvu setzten sich welche auf.
Die Sanitäter warteten auf die Anweisung, die Leiche in den Krankenwagen zu laden. Der Rechtsmediziner aus L’Aquila machte sich noch ein paar letzte Notizen.
»Wie viele Tage ist sie schon tot?«, fragte Balistreri ihn.
»Nach der Obduktion kann ich Ihnen das genauer sagen. Aber drei, vier Tage mindestens.«
»Und die Todesursache?«
»An der Halswurzel sind deutliche Würgemale zu erkennen. Außerdem Blutergüsse, Schnittwunden, Verbrennungen durch Zigaretten und diverse Frakturen.«
Wie Samantha. Wie Nadia. Wie …
Den Gedanken an den dritten Namen verjagte er wütend, konnte aber einen Anflug von Bestürzung nicht unterdrücken. Sie war da und hatte sich reglos und starr in einer Ecke seines Geistes eingenistet. Er wandte sich an den Kommissar. »Ich würde die Leiche gern noch sehen, bevor sie abtransportiert wird.«
»Wenn Sie möchten, nur zu. Ein schöner Anblick ist das nicht, aber Sie sind vermutlich besser an so etwas gewöhnt als ich.«
Die Sanitäter stöhnten unwillig, dann zogen sie das Tuch bis zu den Füßen hinunter. Die Leiche war in einem grauenhaften Zustand, aber die Male am Halsansatz waren eindeutig. Das Mädchen musste kräftig gewesen sein, ein dunkler Hauttyp wie ihr Bruder.
»Dreht sie bitte mal um«, bat er die Sanitäter, die nur widerwillig gehorchten.
Selina hatte ein Tattoo unten auf dem Rücken, eins von denen, die halb aus dem Slip herausschauen, wie es bei den Mädels gerade angesagt war. Eine Sonne mit Strahlen. Und genau in der Mitte war ein fünf Zentimeter großes V eingeritzt.
Abend
Die Villa der Familie Pasquali war so nüchtern wie ihr Besitzer. Seine Gattin servierte das Abendessen und ließ sie dann allein.
Corvu fühlte sich sichtlich unwohl. »Wenn Sie unter vier Augen miteinander reden möchten …«
Pasquali beruhigte ihn. »Das ist nicht nötig. Versuchen wir diese Bescherung erst einmal zu verstehen.«
Sein sonst so glattes und entspanntes Gesicht war von tiefen Furchen gezeichnet. Nach dem Essen servierte Pasquali einen Likör, zündete sich einen Zigarillo an und führte sie hinaus auf die Veranda. »Hier draußen ist es angenehm kühl, da können wir besser nachdenken.«
Balistreri sah ein, dass er mit Ausflüchten nicht mehr weiterkam, und erzählte, was sie in Dubai erlebt hatten. Von dem SUV und dem Tod von Belhrouz, dem Bruder des Mädchens, das sie nun im Brunnen gefunden hatten. Pasquali erwies sich als der gewohnt aufmerksame Zuhörer und verkniff sich die Frage, warum sie ihn nicht informiert hatten.
»Ihr wisst also nicht, ob es ein Unfall oder Mord war«, sagte er schließlich.
»Wir waren uns nicht sicher«, antwortete Balistreri. »Bis heute Abend.«
»Auch das könnte noch Zufall sein«, sagte Pasquali, in erster Linie, um sich Mut zu machen.
»Ebenso wie die Tatsache, dass sie das Mädchen in einen Brunnen hinter deinem Haus geworfen haben?«, antwortete Balistreri gereizt.
Pasquali stieß einen resignierten Seufzer aus.
»Und da ist noch etwas«, fuhr Balistreri fort.
Sein Bericht über die Ereignisse und die Personen im Umfeld von San Valente riefen bei Pasquali sichtlich Nervosität hervor. »Du hast Cardinale Alessandrini belästigt?«, stotterte er ungläubig. »Und er hat dich empfangen?«
»Ein sehr liebenswürdiger Mensch.«
»›Liebenswürdig‹ ist wohl nicht der richtige Ausdruck für einen der fünf mächtigsten Männer des Heiligen Stuhls. Was wolltest du überhaupt von ihm?«
»Die ENT ist in eine schlimme Sache verwickelt«, deutete Balistreri an.
»Das habe sogar ich mittlerweile verstanden«, erwiderte Pasquali zunehmend gereizt. »Aber es ist nicht gesagt, dass sie auch in die Verbrechen involviert ist. Und was hat Cardinale Alessandrini damit zu tun? Ganz zu schweigen von Conte dei Banchi di Aglieno …«
»Du kennst den Conte?«
»Vom Hörensagen kennt ihn jeder. Außerdem spielen wir in demselben Golfclub.«
»Verzeihung«, meldete sich Corvu schüchtern zu Wort. Er wirkte nachdenklich.
»Was ist los?«, fragte Balistreri, als er seine besorgte Miene sah.
»Es hat einen anonymen Hinweis gegeben, und ich …«
»Was redest du da, Corvu?« Balistreris Ton war nun deutlich verärgert.
»Ja«, bestätigte Pasquali. »Auf dem zuständigen Kommissariat ist gegen siebzehn Uhr
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