Du bist das Boese
Ermittlers bestand zu einem Prozent aus genialer Intuition und zu neunundneunzig Prozent aus stumpfsinnigen Analysen. Nur aufgrund dieser Analysen konnte sich so etwas wie Intuition entfalten. Und bislang gab es verdammt wenige Fakten.
Um zehn Uhr wurde er benachrichtigt, dass die ukrainische Prostituierte, die das verdächtige Auto gesehen hatte, nun eingetroffen sei. Balistreri hatte Corvu erlaubt, statt des kleinen Glaskastens sein Büro zu benutzen, wenn er sein Gegenüber beeindrucken zu müssen glaubte.
Das Mädchen war klein und zierlich und hatte ein waches Gesicht, charmant und ungeschminkt. In den glatten schwarzen Haaren hatte sie violette Strähnchen. Sie wirkte jünger als zwanzig.
»Wie heißt du?« Corvu war etwas mulmig zumute. Er hatte mit einer abgebrühten Prostituierten gerechnet, aber das hier schien eine Gymnasiastin zu sein.
»Natalya, und du?«
Überrumpelt von dem vertraulichen Ton wurde Corvu rot und stammelte: »Graziano.« Seinen unattraktiven Nachnamen behielt er lieber für sich.
Er bot ihr den Sessel vor dem Schreibtisch an und setzte sich daneben. Auf den großen drehbaren Schreibtischsessel von Balistreri verzichtete er, um sie nicht einzuschüchtern.
»Seit wann bist du in Italien, Natalya?«
»Erst seit zwei Monaten.«
»Und warum sprichst du so gut Italienisch?«
Sie lächelte. Ein bezauberndes Lächeln. »Ich war drei Jahre mit einem Italiener verlobt. Wegen ihm bin ich auch nach Italien gekommen.«
»Zwingt er dich zur Prostitution?«, fragte Corvu unbehaglich.
Sie brach in Gelächter aus. Sie hatte hellgrüne Augen und schöne kleine, weiße Zähne. »Ich bin doch keine Prostituierte!«, protestierte sie.
Corvu mochte keine Überraschungen. Er wurde puterrot. »Was hattest du denn dann nachts in so einer Straße zu suchen?«
»Es war doch gar nicht Nacht, Graziano. Außerdem war ich nur an diesem einen Tag da, vielleicht zwei Stunden, dann musste ich zur Arbeit.«
Dass sie ihn so unbefangen mit seinem Vornamen ansprach, brachte Corvu ganz durcheinander. Er versuchte es mit einem Ablenkungsmanöver. »Und wo arbeitest du?«
»Ich bin Kellnerin in einer Snackbar. Frühstück, Mittagessen und Abendessen.«
»Und was hast du am 24. Dezember in der Via di Torricola gemacht?«
»Es war Weihnachten. Ich habe meiner Cousine zwei Stunden Gesellschaft geleistet, weil sie bis acht Uhr allein war. Sie macht das leider beruflich …«
»Hattest du keine Angst, wenn sie zu einem Kunden ins Auto gestiegen ist? Dir hätte doch alles Mögliche passieren können!«
»Das ist nur einmal vorgekommen, für zehn Minuten. Zum Glück hat niemand angehalten. Wir hatten abgesprochen, dass ich versuchen soll, Zeit zu schinden, bis sie zurück ist.«
Natalya wunderte sich über Corvus offenkundiges Unbehagen und seine Besorgnis.
»Und in den zehn Minuten, in denen du allein warst, kam ein Auto mit einem kaputten Scheinwerfer vorbei?« Corvu erschauderte bei dem Gedanken, dass das Schicksal Nadia ausgewählt und Natalya verschont hatte.
»Ja, als ich es kommen sah, hatte ich Angst. Ich dachte, es würde bei mir anhalten, aber es wurde nur langsamer, fuhr dicht an mir vorbei und beschleunigte dann wieder.«
»Kannst du dich an den Autotyp erinnern?«
Natalya schüttelte den Kopf. »Nein, es war dunkel. Aber es kam mir irgendwie bekannt vor. Mein Bruder verkauft nämlich in der Ukraine Gebrauchtwagen, aber ich weiß nicht mehr, ob ich es bei ihm oder hier in Italien gesehen habe …«
Das war der richtige Moment, um ihr zu zeigen, was er draufhatte. »Natalya, ich habe ein Programm mit den Autoteilen aller Marken auf dem Computer: Motorhauben, Türen, Dächer und so weiter. Wir setzen uns jetzt zusammen hin, ich zeige dir die Teile, und du suchst immer aus, was dem Auto am nächsten kommt.«
Es machte ihr großen Spaß. Ohne dass sie es bemerkt hätten, waren zwei Stunden vergangen. Als um zwölf Uhr auf dem Gianicolo der tägliche Kanonenschuss ertönte, sahen sie sich an wie zwei Schüler, die man auf der Toilette beim Rauchen erwischt hat.
»Oh, so spät schon, ich muss zur Arbeit«, sagte sie mit einem Bedauern in der Stimme.
»Aber wir haben noch nicht einmal die Hälfte geschafft«, wandte er ein.
»Pass auf, Graziano. Ich arbeite heute bis fünf, und danach geh ich noch zum Friseur, aber dann hab ich Zeit, da der Imbiss heute Abend zuhat. Ich könnte also später wiederkommen, um weiterzumachen. Einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte Corvu sofort. Dann packten ihn die
Weitere Kostenlose Bücher