Du bist in meiner Hand
Haut und das schimmernde Haar. Sie liebte einfach alles an ihrer Schwester und würde jede Einzelheit bis in alle Ewigkeit vermissen.
Während das Flugzeug sich vom Gate entfernte und in Richtung Startbahn rollte, legte Sita gegenüber Lakshmi und sich selbst ein Gelübde ab. Sie würde ihre Schwester nicht vergessen. Sie würde sich immer daran erinnern, was für ein Mensch sie war, und auch ihre Heimat Indien so im Gedächtnis behalten, wie sie es gekannt hatten, bis die Katastrophe über sie kam. Die Welt konnte ihnen ihre Freiheit nehmen. Sie konnte ihnen ihre Unschuld rauben. Sie konnte Naturgewalten, die ihre Vorstellungskraft überstiegen, über sie und ihre Familie hereinbrechen lassen. Ihre Erinnerungen aber konnte sie ihnen nicht nehmen. Diese Macht hatte nur die Zeit, und ihr würde Sita sich mit aller Kraft widersetzen.
Die Vergangenheit war alles, was sie noch hatte.
Am Spätnachmittag setzte die Maschine aus Paris zum Landeanflug auf den Newark Liberty International Airport an. Abgesehen von einer Verschnaufpause, bedingt durch ein dreistündiges Nickerchen, hatte Tante- ji die ganze Zeit mit Jammern verbracht. Ständig rutschte sie auf ihrem Sitz herum, verlagerte das Gewicht mal nach hinten, mal nach vorn und stieß dabei immer wieder mit den Ellbogen gegen Onkel- ji und Sita. Die in der Nähe sitzenden Reisenden durchbohrten sie mit bösen Blicken, aber keiner besaß den Nerv, ihr zu sagen, sie solle endlich den Mund halten – mit Ausnahme von Onkel- ji , aber selbst seine Bitten trafen auf taube Ohren. Tante- ji schien fest entschlossen, ihr Leid mit allen zu teilen, die in Hörweite waren. Als das Flugzeug schließlich landete, stießen zehn Reihen Reisende einen Seufzer der Erleichterung aus.
Tante- jis Tirade ging weiter, während sie auf die Zollkontrolle zusteuerten. Beim Anblick der amerikanischen Zollbeamten musste Sita an Dmitris Worte denken. Auch wenn er sich nun auf der anderen Seite des Atlantiks befand, hatte er Partner in New York. Sie konnte nicht riskieren, sich mit ihrer Geschichte an die Polizei zu wenden.
An der Zollkontrolle mussten sie fast zwanzig Minuten warten, ehe man sie einer Kabine zuwies, die von einem hispano-amerikanischen Zollbeamten besetzt war. Der Mann inspizierte ihre Pässe und nahm mit dem US-VISIT-System ihre Fingerabdrücke und Fotos auf. Dann befragte er Onkel- ji ausführlich über den Zweck ihrer Reise. Alles, was Onkel- ji ihm sagte, entsprach mehr oder weniger der Wahrheit. Außerdem erzählte er seine Geschichte voller Selbstvertrauen, wenn auch in gebrochenem Englisch.
Anschließend wandte der Beamte sich an Tante- ji und fragte sie nach ihrem Wohnort in Frankreich, ihrem Geburtsort und nach Shyam und Sita, die er Sundari nannte. Tante- ji antwortete ihm derart unterwürfig, dass der Beamte sie argwöhnisch zu mustern begann, woraufhin sich Tante- ji , die seine Bedenken spürte, zu Sita umdrehte und ihr den Kopf tätschelte.
»Sag dem Herrn, wie sehr du dich auf New York freust«, forderte sie das Mädchen auf.
Sita stand da wie erstarrt, während sie fieberhaft nach einer passenden Antwort suchte. Schließlich sprach sie die erste Lüge aus, die ihr in den Sinn kam: »In Frankreich reden alle von New York. Ich wollte es schon immer mal sehen.«
»Wie kommt es, dass du so gut Englisch sprichst?«, fragte der Beamte mit zusammengekniffenen Augen.
Diesmal bereitete ihr die Antwort keine Probleme. »Wir lernen es in der Schule.«
Ihre Erklärung schien den Beamten zufriedenzustellen, denn er richtete den Blick wieder auf ihre Pässe. Onkel- ji stand währenddessen nur steif da, Shyam an seiner Seite, und Tante- ji war zur Abwechslung mal so klug, den Mund zu halten. Endlich stempelte der Beamte ihre Pässe ab und winkte sie durch.
»Willkommen in Amerika«, sagte er, ehe er sich dem nächsten in der Warteschlange zuwandte.
Nachdem sie ihr Gepäck abgeholt hatten, ließen sie sich auf einer Bank nieder. Gleich daneben befand sich eine Reihe von Telefonen, von denen aus die Reisenden in verschiedenen Hotels der Stadt anrufen konnten. Weder Onkel- ji noch Tante- ji erklärten Sita, worauf sie warteten. Nur Shyam schien die angespannte Atmosphäre nicht wahrzunehmen. Er stand auf und gab ein paar Tanzschritte aus einem Bollywood-Film zum Besten, zweifellos, um sich damit vor Sita zu produzieren.
»Hast du Kabhi Khushi Kabhie Gham gesehen?«, fragte er sie. »Da spielen Amitabh Bachchan und Shah Rukh Khan mit.«
»Cupa ra h ˉ o !«, ermahnte
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