Du bist in meiner Hand
schnell begonnen und wieder geendet hatte. Als Sita daraufhin zu Shyam hinübersah, stellte sie fest, dass er sie unverwandt anstarrte. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der so viel bedeutete wie: Ich habe es auch gesehen.
Sita lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte die nagende Angst zu verdrängen, die mittlerweile ihre ständige Begleiterin war. Nach der missglückten Flucht letzte Nacht fühlte sie sich sehr erschöpft.
Er dauerte daher nicht lange, und sie schlief ein.
Onkel- jis Stimme ließ sie hochschrecken. Gleichzeitig spürte sie, wie Shyam ihren Arm schüttelte.
»Aufwachen, Sita!«, sagte Onkel- ji .
Als sie die Augen aufschlug, stellte sie fest, dass sie sich schon in den Außenbezirken von Paris befanden. Laut einem Hinweisschild, an dem sie gerade vorbeifuhren, war der Flughafen nur noch zwei Kilometer entfernt. Sita richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Onkel- ji .
»Wir fliegen nach New York«, erklärte er gerade und machte dabei einen sehr nervösen Eindruck. »Bis wir in Amerika sind, musst du so tun, als wärst du unsere Tochter. Es ist sehr wichtig, dass du dich an unsere Anweisungen hältst. Wenn du das nicht machst, wird es schlimme Folgen für dich haben.«
Er reichte ihr einen Pass. Das Foto war dasselbe wie in dem Pass, den Navin für sie gekauft hatte, aber ihr Name lautete nun Sundari Raman, und dem Dokument zufolge besaß sie die französische Staatsbürgerschaft.
»Wir machen Urlaub«, fuhr Onkel- ji fort. »Du darfst nicht mit Fremden reden. Sprich nur mit uns, und zwar auf Hindi. Alles andere übernehmen wir.«
Ihr Reiseziel stürzte Sita in noch größere Verzweiflung. Bei ihrer Reise von Asien nach Europa war sie der festen Überzeugung gewesen, eines Tages eine Möglichkeit zu finden, nach Bombay und zu ihrer Schwester zurückzukehren. Vielleicht war das ein Wunschtraum gewesen, aber zumindest war er ihr nicht wie pure Fantasterei vorgekommen. Nun würde sie von Europa nach Nordamerika fliegen. Die Vereinigten Staaten und Indien befanden sich auf einander gegenüberliegenden Seiten der Erdkugel, viele Tausende Kilometer voneinander entfernt. Wie sollte sie es da jemals nach Hause zurückschaffen?
Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. Während Sita sie wegwischte, zermarterte sie sich das Gehirn bereits nach einem Ausweg, sah jedoch keine Chance. Wie sich gezeigt hatte, waren Wasily und Dmitri sowohl mächtig als auch skrupellos. Sie bestimmten über das Schicksal von sechs jungen Frauen und hatten innerhalb weniger Tage eine ganze Reihe von Pässen beschafft. Falls sie ein weiteres Mal ihren Zorn herausforderte, drohte ihr bestimmt wesentlich Schlimmeres als eine Platzwunde am Kopf.
Am Terminal 2A des Charles-de-Gaulle-Flughafens setzte Dmitri sie ab. Nachdem er ihnen ihr Gepäck auf den Gehsteig gestellt hatte, wandte er sich an Sita.
»Du hast uns große Schwierigkeiten eingebrockt«, erklärte er leise. »Von nun an musst du tun, was man dir sagt. Ansonsten werden dir unsere Partner in New York sehr wehtun. Ist das klar?«
Sie nickte.
»Gut«, sagte er und berührte dabei ihr Haar, um seinen drohenden Worten Nachdruck zu verleihen. Dann stieg er in den Mercedes und brauste davon.
Nachdem Tante- ji Sita den schwersten Koffer in die Hand gedrückt hatte, folgten sie Onkel- ji ins Flughafengebäude, wo sie am Ticketschalter eincheckten und dann auf die Sicherheitskontrolle zusteuerten. Obwohl die französischen Beamten ihr Vierergrüppchen genau in Augenschein nahmen, versuchte Sita nicht, mit ihnen zu sprechen.
Sie kamen ohne Probleme durch die Kontrolle und ließen sich im Wartebereich nieder. Gegen Mittag wurde ihr Flug aufgerufen. Während Onkel- ji der Frau am Boarding-Schalter ihre Pässe und Tickets reichte, tätschelte Tante- ji Sita scheinheilig den Kopf. Die Frau lächelte Shyam und Sita zu.
»Bon voyage«, sagte sie, als sie Onkel- ji die Abrisse zurückgab.
Ihre Plätze lagen im mittleren Teil der großen Maschine. Tante- ji war darüber alles andere als begeistert und beklagte sich außerdem über die schmalen Sitze. Onkel- ji verdrehte die Augen, sagte aber nichts dazu, sondern unterhielt sich leise mit Shyam. Sita sah aus dem Fenster und ignorierte die anderen. Sie beobachtete ein Flugzeug, das in einiger Entfernung abhob, und versuchte sich gleichzeitig das Gesicht ihrer Schwester in allen Einzelheiten vorzustellen. Ihre großen Augen mit den dichten Wimpern. Die Grübchen an den Wangen und die vollen Lippen. Die mandelfarbene
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