Du bist in meiner Hand
dem zwölften Jahrhundert, und von gepflegten Gärten eingerahmt wurde.
»Sind wir hier richtig?«, fragte Thomas erstaunt. »Das ist ja ein Herrenhaus!«
»In der Tat. Vater Gérard soll Ihnen die Geschichte selbst erzählen.«
Als sie ausstiegen, wurden sie auf dem Hof von einem Mann im Priestergewand willkommen geheißen. Sein Haar begann sich bereits zu lichten, und er trug eine Brille, die seinem Gesicht etwas Eulenhaftes verlieh. Zur Begrüßung schüttelte er beiden die Hand. Sein Englisch war überraschend gut.
» Bonjour , willkommen«, sagte er in herzlichem Ton. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen.«
»Vielen Dank, dass Sie sich bereit erklärt haben, uns zu empfangen«, antwortete Julia.
Der Priester wandte sich an Thomas. »Dieser Ort ist geheim. Sind wir uns da einig? Ihre Begleiterin hier verfügt über die nötigen Genehmigungen. Für Sie gilt das nicht. Sie müssen mir versprechen, dass Sie mit keinem Menschen darüber reden.«
»Sie haben mein Wort«, sagte Thomas.
Der Priester nickte. »In dem Fall folgen Sie mir bitte in diese Richtung.«
Vater Gérard führte sie in einen Empfangsbereich, der mit dunklen, rustikalen Möbeln eingerichtet war, und dann durch eine Hintertür hinaus in einen Garten. Die Luft war wärmer als in Paris und duftete nach frischem Gras. Auf einem Fußweg gelangten sie zu einer Wiese mit einem steinernen, von Bänken flankierten Brunnen in der Mitte. Dort saßen drei junge Frauen in ein ruhiges Gespräch vertieft. Eine von ihnen trug die Tracht einer Nonne.
»Dieses Château war das Geschenk eines innerlich zerrissenen Mannes, der am Ende seines Lebens doch noch Frieden fand«, erklärte der Priester. »Er hinterließ es der Diözese von Quimper, die dafür keine Verwendung hatte. Der Bischof besaß jedoch genug gesunden Menschenverstand, es nicht sofort zum Verkauf anzubieten, sondern erst einmal nachzufragen, ob einer anderen Diözese ein christlicher Verwendungszweck dafür einfiel. Das war 1999. Ich arbeitete damals in Marseille für eine gemeinnützige Organisation, die sich um junge, zur Prostitution gezwungene Frauen kümmerte. Obwohl die Regierung unserer Sache wohlwollend gegenüberstand, waren die geltenden Gesetze nicht sehr hilfreich. Viele der geretteten Frauen wurden erneut verschleppt und ausgebeutet. Ich hatte die Idee, einen geheimen Rückzugsort für solche Frauen einzurichten, aber wir verfügten nicht über das nötige Geld, um eine entsprechende Immobilie zu kaufen. Da hörten wir von dem Château. Der Bischof hieß uns mit offenen Armen willkommen. Das Ergebnis ist unser Sanctuaire d’Espoir , die ›Zuflucht der Hoffnung‹.«
Sie wanderten einen Pfad entlang, der zu einem eingezäunten Feld führte. Nicht weit von ihnen entfernt kauten zwei Pferde auf Grasbüscheln herum. Ein leichter Westwind wehte vom Meer herüber.
»Wie entscheidet die Regierung, wer hierherdarf?«, erkundigte sich Thomas.
»Die Polizei schickt uns diejenigen, die sich in Gefahr befinden. Für gewöhnlich handelt es sich um Frauen, die vom organisierten Verbrechen festgehalten wurden oder in der Gewalt von Menschenhändlern waren, die sich noch auf freiem Fuß befinden. Wir behalten sie hier, bis ihr Fall vor Gericht verhandelt wird oder sie nach Hause zurückkehren. Mittlerweile sind die Gesetze besser. Wenn die Frauen mit den Behörden zusammenarbeiten, besteht auch die Möglichkeit, ihnen Asyl oder eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu gewähren.«
»Wie kommen denn die neuen Mädchen zurecht?«, fragte Julia.
Vater Gérard schwieg einen Moment. »Alle haben tiefe Wunden davongetragen, aber manche dieser jungen Frauen sind stärker als andere. Eine von ihnen ist besonders stark. Ich glaube, sie war auch diejenige, die die Polizei über den Fall informiert hat.«
Thomas betrachtete den Priester. »Wann kann ich mit ihnen sprechen?«
Der Priester erwiderte seinen Blick. »Das ist eine schwierige Frage. Die meisten Fachleute würden sagen, dass es verrückt von mir ist, Sie in einer so frühen Phase mit ihnen reden zu lassen. Man kann sich gar nicht vorstellen, was diese Mädchen durchgemacht haben. Aber Ihnen geht es darum, ein Leben zu retten, und das hat Vorrang. Ich werde alles Nötige veranlassen.«
Der Priester führte sie zurück ins Château, wo er sie in einem riesigen Wohnzimmer Platz nehmen ließ, das mit Antiquitäten und herrschaftlichen Familienporträts ausgestattet war. Ein paar Minuten später kehrte er mit einer der schönsten jungen
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