Du bist in meiner Hand
Frauen zurück, die Thomas je gesehen hatte. Sie war so hochgewachsen wie ein Laufstegmodel und bewegte sich mit einer Anmut, die sich nicht einstudieren ließ. Trotzdem sprach aus ihren klaren blauen Augen nur Kummer. Als sie Thomas ansah, wandte er den Blick ab, weil er ihre offensichtliche Verletzlichkeit und ihren eindringlichen Blick nur schwer ertragen konnte.
Sie nahm ihnen gegenüber auf einer brokatbezogenen Couch Platz und sah den Priester an, als würde sie auf ein Stichwort von ihm warten. Vater Gérard ging sehr behutsam mit ihr um, wobei er besonders darauf achtete, ihr nie zu nahe zu kommen und sie auf keinen Fall zu berühren. Er redete langsames Englisch mit ihr und bemühte sich um eine deutliche Aussprache.
»Natalia, ich möchte dir Thomas Clarke und Julia Moore vorstellen.«
Das Mädchen nickte.
»Thomas kommt aus den Vereinigten Staaten, und Julia arbeitet in Paris für die amerikanische Botschaft.«
Die Verbindung nach Amerika schien die junge Frau zu verwirren. Ihr fragender Blick blieb auf den Priester gerichtet, als erwartete sie von ihm weitere Erklärungen.
»Thomas würde dir gern ein paar Fragen stellen, falls dir das recht ist.«
Natalia schüttelte den Kopf. »Mein Englisch nicht so gut«, gab sie leise zu bedenken. Sie sprach tatsächlich mit starkem Akzent. »Ich versuchen zu verstehen, aber ich nicht wissen. Du sprechen langsam?«
»Natürlich«, versicherte ihr Thomas. Er holte das Foto heraus, das Ahalya ihm gegeben hatte, und hielt es ihr hin. »Haben Sie dieses Mädchen schon einmal gesehen?« Er deutete auf Sita.
Natalia griff nach dem Foto und betrachtete es lange Zeit. Sie begann zu weinen. Mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit sah sie Thomas an.
»Ja.«
Thomas schnappte nach Luft. »Können Sie mir sagen, wo?«
Natalia starrte zu Boden. »Da war ein … Raum«, begann sie. »Er uns dort hinbringen für Vergewaltigung. Eines Tages er mich lassen allein, und dieses Mädchen kommen. Sie sagen …« Mitten im Satz brach Natalia ab und begann wieder zu weinen. »Sie sagen, sie beten für mich. Ich sie erst halten für Engel, aber sie war Sita. Sie machen Hausarbeit.« Natalia schwieg einen Moment. »Später ich sie sehen wieder. Sie versuchen wegzulaufen, aber sie nicht … schaffen Flucht. Nächsten Tag sie weg.«
»Wissen Sie, wohin man sie gebracht hat?« Thomas versuchte, sich seine Aufgewühltheit nicht anmerken zu lassen.
Natalia schüttelte den Kopf.
»Glauben Sie, eines der anderen Mädchen hat ebenfalls mit ihr gesprochen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Ich für dich fragen.«
Mit diesen Worten sprang sie auf und eilte aus dem Raum. Wenige Minuten später kam sie in Begleitung einer anderen jungen Frau mit slawischen Zügen zurück. Der Priester erhob sich, und Thomas und Julia folgten seinem Beispiel.
»Das ist Ivanna«, erklärte Natalia. »Sie nicht sprechen Englisch, aber sie etwas wissen.«
Natalia fragte Ivanna etwas auf Ukrainisch, woraufhin Ivanna nickte und in leisem Ton antwortete.
»Sie sagen, sie kochen«, informierte Natalia sie. »Sita helfen in Küche.«
Erneut wechselten die beiden Frauen ein paar für die anderen unverständliche Worte.
»Sie sagen, indisches Paar kommen in Haus letzte Woche. Sie sprechen über Reise nach Amerika.«
Einerseits fühlte Thomas sich durch Ivannas Enthüllung bestätigt, andererseits aber auch entmutigt. Navins Onkel hatte Sita aus Frankreich fortgeschafft, und die Petrowitschs hatten etwas damit zu tun. Aber Amerika? Bestimmt gingen von Paris aus täglich mindestens fünfzig Flüge in alle möglichen amerikanischen Städte. Die einzige wirkliche Hürde, die man bei der Einreise überwinden musste, war die Grenzkontrolle am Flughafen. Hatte man die Zollbeamten erst einmal hinter sich gelassen, konnte man ohne große Mühe spurlos verschwinden.
»Haben sie gesagt, in welchen Teil der Vereinigten Staaten sie reisen wollten?«, fragte er.
Natalia übersetzte die Frage, aber Ivanna schüttelte den Kopf.
»Ich sprechen mit allen Mädchen«, sagte Natalia. »Nur Ivanna hat Information.«
»Danke«, antwortete Thomas. »Das ist ja schon einmal etwas.«
Natalia musterte ihn eindringlich. »Du finden Mädchen?«
»Ich tue mein Bestes«, erwiderte er.
Sie griff nach seiner Hand. »Dann wir sind Freunde«, erklärte sie. »Auf Wiedersehen.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand in Richtung Eingangshalle.
Thomas’ Haut kribbelte von ihrer Berührung. Wie viele Menschen hatten
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