Du bist in meiner Hand
langsam mit Reisenden füllte.
Kurz vor sieben stiegen sie ein und suchten sich ihr Abteil. Wenige Minuten später glitt der Zug aus dem Bahnhof, und schon kurze Zeit darauf ließen sie das Stadtgebiet hinter sich.
Julia holte gerade ihren Laptop aus ihrer Aktentasche, als ihr plötzlich etwas einfiel.
»Ach ja, ich wollte Ihnen schon die ganze Zeit sagen, dass unser Mann bei der BRP endlich etwas von der Botschaft in Mumbai gehört hat. Wie es scheint, hat das CBI versucht, sich mit der französischen Polizei in Verbindung zu setzen, ist dabei aber wohl an irgendwelchen bürokratischen Hürden gescheitert. Laut den Kollegen aus der Botschaft passiert so etwas ständig. Mittlerweile aber hat das CBI die Informationen weitergegeben, die dieser Navin ausgespuckt hat, und die französische Polizei versucht gerade, seinen Onkel aufzuspüren. Außerdem wird wegen Navins eigenen Aktivitäten ermittelt. Die Polizei geht davon aus, dass er unter falschem Namen in Frankreich lebt.«
»Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie solche Kriminellen es schaffen, für die Behörden völlig unsichtbar zu bleiben«, bemerkte Thomas. »Die Schattenwelt ist offenbar genauso weitläufig wie die reale.«
»Die beiden Welten unterscheiden sich nur hinsichtlich der Spielregeln«, bestätigte Julia, »ansonsten ist alles gleich.« Sie klappte ihren Laptop auf. »Stört es Sie, wenn ich ein bisschen arbeite? Ich habe meinem Chef versprochen, dass er bis morgen früh einen Bericht über die Petrowitschs auf dem Schreibtisch hat.«
»Weiß er über unser Vorhaben Bescheid?«
Julia lächelte verschwörerisch. »Ich habe ihm erzählt, dass die BRP uns an den Ermittlungen beteiligen will. Was sogar der Wahrheit entspricht. Die Petrowitschs haben das Land vermutlich schon verlassen, und unser Netzwerk ist besser als das der BRP. Im Gegenzug habe ich unseren Mann bei der BRP davon überzeugt, dass wir Zugang zu den Mädchen brauchen.«
»Was ist mit den Leuten in der Bretagne?«
»Ich habe ihnen von Sita erzählt. Sie sind bereit, uns zu helfen – und zwar diskret, das haben sie mir versprochen.«
Thomas stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Ich bin beeindruckt. Sie haben etwas gut bei mir.«
»Das kann man wohl sagen!«, gab Julia zurück. »Aber jetzt muss ich ein bisschen arbeiten.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, antwortete er, während er seinen eigenen Laptop aus seinem Rucksack holte.
Am Vorabend hatte er sich von der Website des Le Projet de Justice ein paar Artikel über Menschenhandel in Osteuropa heruntergeladen. Er wollte zumindest ansatzweise über die Erfahrungen der Petrowitsch-Mädchen informiert sein, wenn er in ihrem Rückzugsort ankam. Die Fälle, über die in der Tagespresse und den Fachzeitschriften berichtet wurde, erfüllten ihn mit Entsetzen. Allem Anschein nach wurden unzählige junge Frauen aus den ehemaligen Ostblockländern ausgebeutet. Viele von ihnen wurden ins Sexgeschäft verkauft. Das Phänomen war so gründlich dokumentiert, dass man diesen Frauen sogar schon einen Namen verpasst hatte: »die Nataschas«. Sie stammten aus Moldawien, der Ukraine, Weißrussland, Rumänien, Bulgarien, Litauen und Russland. Für die Kunden aber waren sie alle einfach Russinnen.
Nach einer Stunde deprimierender Lektüre begab sich Thomas ins Bordcafé, wo er sich einen Espresso und ein Sandwich bestellte. An seinen Platz zurückgekehrt, starrte er eine Weile auf die vorbeiziehende Landschaft hinaus, ehe er auf seinem Laptop schließlich ein neues Dokument öffnete, um für Priya ein paar Reiseeindrücke festzuhalten.
Nach ihrer Ankunft in Quimper mieteten sie am Bahnhof einen Wagen und fuhren in westlicher Richtung in die Bre tagne hinein. Julia tätigte auf ihrem Handy einen Anruf und bestätigte ihren Termin auf Französisch.
»Alles in Ordnung?«, fragte Thomas.
»Ja«, antwortete sie, »Vater Gérard ist sehr nett. Er freut sich schon, uns kennenzulernen.«
»Vater? Hat das Versteck der Frauen mit der Kirche zu tun?«
»Das können Sie gleich selbst herausfinden.«
Zwanzig Minuten später bog Julia auf einen von Steinmauern und alten Bäumen flankierten Kiesweg ein. Der Weg schlängelte sich durch Weideland, das von Wald gesäumt war, und endete schließlich vor einem schmiedeeisernen Tor, an dem ein Wachmann ihre Ausweise kontrollierte, ehe er sie durchwinkte. Sie schwenkten in eine kreisförmig angelegte Zufahrt ein und hielten vor einem vornehmen französischen Château, das aussah, als stammte es aus
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