Du bist in meiner Hand
nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag mit dieser Frage konfrontiert sah. Er musste daran denken, wie Abbys Mutter in seinen Armen geschluchzt hatte. Nachdenklich wandte er sich an seinen Vater.
»Nachdem wir schon mal über so deprimierende Themen sprechen, Dad, würde ich gern deine Meinung zu etwas hören, das mir auf der Heimfahrt passiert ist.«
Er erzählte dem Richter nicht ohne Hintergedanken von der Entführung und seinem Gespräch mit Detective Morgan. Immerhin saß sein Vater in einem der mächtigsten Bezirksgerichte des Landes an oberster Stelle. Wenn jemand einen guten Überblick über das Verbrechen in Amerika hatte, dann er.
Als Thomas zu Ende erzählt hatte, rieb sein Vater sich nachdenklich das Kinn. »Hmm, Fort Bragg ist in Fayetteville.« Nach einer Pause fuhr er fort. »Womöglich war es keine gewöhnliche Entführung. Wir hatten im vergangenen Jahr einen starken Anstieg im Bereich Menschenhandel zu verzeichnen.«
Thomas runzelte die Stirn. »Was hat der Armeestützpunkt damit zu tun?«
»Das ist im Grunde ganz einfach. Der Armeestützpunkt liefert den Zuhältern eine Stammkundenbasis.«
Elena seufzte und stand abrupt auf, um das Geschirr abzutragen. Nachdem Thomas einen vielsagenden Blick mit seinem Vater gewechselt hatte, erhob er sich, um ihr zu helfen. Anschließend zogen sie sich ins Wohnzimmer zurück. Thomas nippte an einem Glas Eierlikör, während sein Vater im Kaminfeuer herumstocherte.
Sie versammelten sich um den Weihnachtsbaum, und Elena nahm eine alte, ledergebundene Bibel von einem Wandtischchen. Sie schlug das Lukas-Evangelium auf, wie sie es zu dieser Zeit des Jahres immer tat, starrte jedoch nur mit leerem Blick auf die Seite. Nach einem Augenblick des Schweigens ließ sie die Bibel wieder sinken.
»Ich glaube nicht, dass ich das jetzt kann«, erklärte sie.
»Dann lese ich statt deiner.« Mit diesen Worten nahm ihr der Richter die Bibel aus der Hand.
Er blätterte bis zu dem Abschnitt, der von der Geburt Jesu handelte, und begann die uralten Worte vorzulesen. Thomas hörte zu, wie er es jedes Jahr seines Lebens getan hatte, auch wenn ihm der Text inzwischen nicht mehr viel bedeutete. Er war wie jeder katholische Junge zur Firmung gegangen, doch während seiner Studienjahre in Yale waren die Worte des Katechismus für ihn zunehmend fadenscheinig und schal geworden. In der realen Welt regierte nur eine einzige Wahrheit, und zwar der Zweifel.
Nachdem der Richter die Bibel wieder zugeklappt hatte, griff Elena unter den Weihnachtsbaum und reichte Thomas ein kleines, in Goldpapier gewickeltes Päckchen. Sie lächelte ihren Sohn an. Dann wanderte ihr Blick zum Richter.
»Dein Vater hat sie ausgesucht«, bemerkte sie.
Thomas entfernte das Papier und öffnete ein Schmuckkästchen mit einem Paar silberner Manschettenknöpfe. Sie trugen seine Initialen: TRC. Das »R« stand für Randolph.
»Priya hat dich doch immer dazu überreden wollen, diese braven Hemden mit doppelter Manschette zu tragen«, erklärte sein Vater mit einem kleinen Lachen. »Ich dachte, dieses Geschenk wäre dabei hilfreich.«
»Sie hat mich immer zu allem Möglichen überreden wollen«, erwiderte Thomas.
Elena zog ein zweites Päckchen heraus. »Für sie habe ich das hier«, meinte sie seufzend. »Ich habe es in einem Antiquariat entdeckt. Vielleicht sollte ich es jetzt einfach selbst behalten, aber lieber wäre es mir, du würdest es mitnehmen.«
Thomas schüttelte den Kopf. »Sie kommt nicht zurück, Mom. Deswegen sehe ich keinen Sinn darin, es mitzunehmen.« Er wollte nicht zu harsch klingen, ihr aber auch keine falschen Hoffnungen machen.
Elena seufzte. »Nimm es trotzdem. Bitte.«
Widerstrebend griff Thomas nach dem Geschenk. »Soll ich es auspacken?«
Seine Mutter nickte.
Unter dem Papier kam ein Gedichtband von Sarojini Naidu zum Vorschein.
»Eine gute Wahl«, stellte er fest. »Sie hat Naidu immer sehr gemocht.«
»Warum liest du uns nicht etwas vor?«
Unwillkürlich wollte er ablehnen, aber um seine Eltern nicht zu enttäuschen, schlug er das Buch auf und las ein Gedicht mit dem Titel »Vergänglichkeit« vor. Obwohl der Refrain eine eindringliche Schönheit besaß, klangen die Worte in seinem Herzen hohl.
Nein, weine nicht; neue Hoffnungen, Träume, Gesichter,
Die frische Freude all der Jahre, die noch vor dir liegen,
Macht bald dein Herz zu einem Verräter deines Kummers
Und deine Augen untreu ihren Tränen, die dann rasch versiegen.
Nachdem er zu Ende gelesen hatte, herrschte
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