Du bist in meiner Hand
Stunde später kamen sie mit einem Urteil wieder, das selbst die hartgesottensten Justizveteranen schockierte: 300 Millionen Dollar Entschädigungszahlungen und 600 Millionen Dollar Bußgeld. Dieses Urteil setzte nicht nur ein Zeichen. Es schlug ein wie eine Bombe.
Die verheerenden Auswirkungen ließen nicht lange auf sich warten: Über Nacht verloren die Wharton-Aktien die Hälfte ihres Wertes. Doch die Arbeit der Clayton-Anwälte war noch nicht zu Ende, denn bereits beim Verlassen des Gerichtsgebäudes beteuerte der Wharton-Geschäftsführer die Unschuld seiner Firma und schwor, das Urteil bis hinauf zum Obersten Bundesgericht anzufechten. In Wirklich keit wollte er nur Zeit schinden. Selbst wenn es am Ende auf eine Bestätigung des Urteils hinauslief, würden die Kläger fünf Jahre auf ihr Geld warten müssen. Womöglich ließen sich bis dahin ja doch etliche von ihnen mit einer geringen Summe abspeisen.
Obwohl die Besprechung so wichtig war, konnte sich Thomas nur schwer auf die Sitzung konzentrieren. Seine Gedanken schweiften von der Entführung, deren Zeuge er in Fayetteville geworden war, zu Tera Atwood, die ihm am Konferenztisch gegenübersaß, und dann weiter zu den Bildern aus der Schule, die die Anwälte der Kläger den Geschworenen gezeigt hatten. Was er am Vorabend zu seinem Vater gesagt hatte, stimmte: Es war schwer, ein Unternehmen zu mögen, das für den Tod von fast hundert Kindern verantwortlich war. Andererseits spielte es für seine Arbeit keine Rolle, ob er Wharton mochte oder nicht. Die Arbeit eines Anwalts bestand darin, für seinen Mandanten zu kämpfen und andere darüber entscheiden zu lassen, was richtig und was falsch war.
Als er sich schließlich wieder in die Diskussion einklinkte, erhob sich Maximillian Junger gerade von seinem Platz am Kopfende des Tisches. Junger war der Sozius, der die Prozessabteilung leitete, und somit auch Leiter der Wharton-Gruppe. Außerdem war er ein guter Freund von Thomas’ Vater.
»Mark Blake wird das Berufungsteam leiten«, verkündete Junger mit dieser dunklen Stimme, mit der er über dreißig Jahre lang Geschworene bezirzt hatte. »Unterstützen werden ihn Hans Kristof und eine ausgewählte Gruppe aus Ihren Reihen.«
Junger griff nach einer Fernbedienung, um den an der Wand angebrachten Flachbildfernseher einzuschalten. Die Namen der für das Berufungsteam eingeteilten Anwälte erschienen auf dem Bildschirm. Enttäuscht stellte Thomas fest, dass sein Name nicht auf der Liste stand. Er warf einen Blick zu Tera hinüber. Im Gegensatz zu ihm war sie für die Aufgabe ausgewählt worden. Mit einem traurigen Ausdruck in den Augen lächelte sie ihn an. Ihre Tage der engen Zusammenarbeit an dem Fall waren vorbei.
Thomas richtete den Blick wieder auf Junger. »Den übrigen von Ihnen«, sagte er gerade, »möchte ich im Namen der Kanzlei für Ihre Bemühungen während der vergangenen vierzig Monate danken. Das Urteil war eine Enttäuschung, aber wie wir gerade besprochen haben, gibt es viele Gründe dafür, in Berufung zu gehen. Wenn Sie nicht im Berufungsteam sind, wenden Sie sich bitte an den Sie betreuenden Sozius. Wir haben etliche schwebende Verfahren, denen Sie sich widmen können.«
Junger warf einen Blick auf die Wanduhr. Die für die Sitzung angesetzten dreißig Minuten waren vorüber. »Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit«, sagte er, »hiermit erkläre ich die Sitzung für beendet.«
In der Hoffnung, entwischen zu können, ehe ihn jemand von den anderen – insbesondere Tera – ansprechen konnte, stand Thomas auf und eilte zur Tür. Draußen traf er auf Max Junger, der mit ihm zum Aufzug ging. Nachdem sie eingestiegen waren, drückte Junger auf den Knopf für den elften Stock. Thomas wollte auf den für den sechzehnten drücken, doch Junger hielt ihn zurück.
»Wir haben uns schon eine ganze Weile nicht mehr unterhalten, Thomas«, meinte er. »Was hältst du von einem kurzen Plausch in meinem Büro?«
Thomas nickte, zermarterte sich aber gleichzeitig das Gehirn, was diese Einladung zu bedeuten hatte. Ein persönliches Gespräch mit Junger verhieß nichts Gutes. Positive Nachrichten wurden immer durch die offizielle Befehlskette übermittelt.
»Wie geht es deinem Vater?«, begann Max Junger im Plauder ton.
»Gut.« Thomas versuchte, seine Nerven zu beruhigen. »Er spricht sehr oft von Ihnen.«
»Und reißt bestimmt auf meine Kosten seine Witzchen«, meinte Junger mit einem leisen Lächeln. »Das hat er schon damals an der Uni gern
Weitere Kostenlose Bücher