Du bist in meiner Hand
Sumeera an Ahalya gewandt fort. »Darf ich?«
Ahalya gab ihr keine Antwort. Ein Sturm aus widersprüchlichen Gefühlen wütete in ihr. Zu ihrem Geburtstag hatte ihre Mutter ihr jedes Jahr einen Kranz aus Jasmin und Ringelblumen ins Haar gebunden. Genauso hatte sie es bei Sita gemacht. Ein Blumenkranz war ein Zeichen für einen festlichen Anlass und gute Wünsche. Nun befanden sie sich in einem Haus der Sünde. Wie konnte diese fremde Frau da mit demselben Ansinnen an sie herantreten?
Sumeera quittierte Ahalyas Schweigen mit einem Nicken und musterte sie dann resigniert. »Ich war auch einmal wie ihr«, erklärte sie schließlich. »Ich wurde aus meinem Zuhause herausgerissen und von fremden Männern hierhergebracht. Das Leben im Adda ist hart, aber ihr müsst es hinnehmen. Es hat keinen Sinn, sich dagegen zu wehren. Akzeptiert euer Karma, dann werdet ihr vielleicht an einem besseren Ort wiedergeboren.«
Mit diesen Worten hängte sie die Blumenkränze über den Rand der Wasserschüssel, erhob sich schwerfällig und verschwand die Treppe hinunter.
Als sie wieder allein waren, tauchte Sita den Lappen ins Wasser und reichte ihn Ahalya. »Hat sie recht?«, fragte sie ihre große Schwester im Flüsterton. »Ist das wirklich unser Karma?«
Ahalya griff nach dem Lappen, hielt den Blick jedoch auf den Boden gerichtet, weil sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.
Das war die Wahrheit.
4
Das höchste moralische Gesetz besagt, dass wir
unablässig zum Wohl der Menschheit wirken sollten.
MAHATMA GANDHI
Washington, D. C.
Thomas Clarke saß bei Clayton & Swift in einem Konferenzraum im neunten Stock und starrte durchs Fenster auf das Gebäude der Kanzlei Marquise & LeClair gleich gegenüber. Der dunkle, hölzerne Konferenztisch vor ihm bot Platz für vierundzwanzig Personen. Bei der gerade stattfindenden Besprechung waren achtzehn anwesend: zwölf Anwälte, vier juristische Hilfskräfte und zwei Praktikanten. Die Wharton-Gruppe, wie sie intern hieß, war das größte Prozessteam in der Geschichte der Kanzlei.
Gesprächsthema war an diesem Tag die von Wharton eingelegte Berufung. Von den zwölf anwesenden Anwälten sprachen hauptsächlich fünf. Die übrigen – einschließlich Thomas – schwiegen, während ihre BlackBerrys, die am Ende des Tages dank einer hochentwickelten Abrechnungssoftware automatisch mit ihren Firmen-Laptops synchronisiert wurden, über die verstreichenden Sekunden Buch führten. Es handelte sich um eine Krisensitzung. Die Geschäftsleitung der Kohlenbergbaufirma war äußerst erzürnt über das Urteil der Geschworenen und wollte Blut sehen.
Niemand konnte fassen, dass es so weit gekommen war. Über drei Jahre lang hatten die Clayton-Anwälte sämtliche juristischen Winkelzüge angewandt und währenddessen nach einem Weg gesucht, die Milliardenklage wegen fahrlässiger Tötung entweder vom Tisch zu fegen oder sich mit den Klägern auf eine lächerlich geringe Schadensersatzsumme zu einigen. Dabei hatte die Verteidigung aufgrund der Beweislage von Anfang an schlechte Karten gehabt. Die Schlammlawine an dem Berg in West Virginia, wo das Unternehmen Kohle abbaute, war von Umweltaktivisten vorhergesagt worden. Die beauftragte Firma, die behauptet hatte, der beim Abbau entstehende Schlamm könne auf keinen Fall aus den Stollen der Mine austreten, musste sich gerade einer von der Regierung angeordneten Prüfung unterziehen. Und dann war da noch das Problem mit den Kindern. Einundneunzig von ihnen waren während der Schulspeisung von über zwei Millionen Hektoliter Schlamm ertränkt worden. Der Wharton-Gruppe blieb nur eine einzige Strategie, um gegen die Familien der Toten zu gewinnen: Die Anwälte mussten verhindern, dass diese Leute ihre Geschichte jemals einer Geschworenenjury erzählten.
Die Strategie wäre fast aufgegangen. Der Druck, gegen eine renommierte Kanzlei und eine Bergbaufirma mit nahezu unerschöpflichen finanziellen Ressourcen zu prozessieren, hatte die Kläger an den Rand ihrer Möglichkeiten getrieben, und beinahe hätten sie sich auf den von Wharton in letzter Minute vorgeschlagenen Vergleich eingelassen. Am Ende aber waren sie hart geblieben, und als es schließlich doch zum Geschworenenprozess kam, stand der Ausgang im Grunde schon fest. Die Frage war nur noch, wie hoch das Strafmaß ausfallen würde.
Nach drei nervenaufreibenden Wochen forderte Richter Hirschel die Geschworenen auf, sich zur Beratung zurückzuziehen. Eine
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