Du bist in meiner Hand
»Was für eine hättest du denn gern, Ahalya?«
»Blauen Lotus«, antwortete sie. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die von allen bewunderten Blüten der Kamala , die ihre Mutter in einem Teich neben dem Haus der Familie gepflanzt hatte. Es waren Sitas Blumen gewesen. Als kleines Kind hatte ihre Schwester fest daran geglaubt, dass sie Zauberkraft besaßen.
Schwester Ruth sah Anita an. »In der Nähe des Waisenhauses liegt ein Teich«, erklärte sie. »Ich glaube, da würde eine Lotuspflanze gut gedeihen.«
Schlagartig fühlte sich Ahalya ein wenig besser. Sie sah erst Schwester Ruth und dann Anita an. »Sie würden mich wirklich einen Lotus pflanzen lassen?«, fragte sie erstaunt. Die Samen des blauen Lotus waren selten und entsprechend teuer, und selbst unter idealen Bedingungen ließen sie sich nur schwer zum Keimen bringen. »Ich habe einen Topf, der dafür genau richtig wäre«, antwortete Schwester Ruth. »Was meinen Sie, Anita?«
Anita griff nach Ahalyas Hand. »Gib mir ein paar Tage. Ich versuche, Samen aufzutreiben.«
12
Das Herz wird brechen, aber gebrochen weiterleben.
LORD BYRON
Paris – Frankreich
Sita wachte erst wieder auf, als die Maschine am Charles-de-Gaulle-Flughafen landete. Sie hatte vor lauter Durst einen ganz trockenen Mund, wusste aber, dass sie nichts trinken durfte, bis Navin es ihr erlaubte. Sie lenkte sich ab, indem sie aus dem Fenster sah. In Paris war es halb acht Uhr morgens und der Winterhimmel noch dunkel.
Das Flugzeug rollte in Richtung Gate. Navin holte seinen Koffer aus dem Gepäckfach über ihren Köpfen und reichte Sita einen Daunenmantel. »Draußen ist es kalt. Zieh das an.«
Sita erhob sich langsam. Während sie in den Mantel schlüpfte, versuchte sie das Rumoren der Kügelchen in ihrem Bauch einfach zu ignorieren. Das Kleidungsstück passte nicht recht über ihren Churidar, aber sie war dankbar für seine Wärme.
»Wir sind fast da«, sagte er. »Höchstens noch zwei Stunden.«
Sie folgte Navin entlang der Gangway, die zum Terminal führte. Zusammen mit den anderen Reisenden wurden sie durch mehrere Gänge zu einer Reihe von gläsernen Kabinen geschleust. In jeder dieser Kabinen saß ein Zollbeamter. Rasch ging Sita im Geiste die Details ihrer neuen Identität noch einmal durch. Ich bin Sundari Rai. Navin verkauft Versicherungen. Wir verbringen in Paris unsere Flitterwochen. Verhalte dich nicht wie eine Kriminelle, denn du bist keine.
Der Zollbeamte musterte sie müde. Mit einem flüchtigen Blick auf das Foto in Sitas Pass stempelte er ihr Visum ab und legte es zur Seite. Dann schlug er Navins Pass auf. Sofort huschte ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht. Er hob den Ausweis ins Licht und besah sich das Foto. Als er Navin daraufhin eindringlich musterte, war jede Spur von Schläfrigkeit aus seinen Augen gewichen. Er betätigte ein paar Tasten seines Computers. Stirnrunzelnd griff er nach einem Funkgerät und bellte einen knappen Befehl hin ein. Binnen weniger Sekunden steuerten zwei Sicherheitsbeamte auf sie zu, den Blick auf Navin gerichtet.
Der Herr vom Zoll trat aus seiner Kabine. »Sie müssen mitkommen«, erklärte er, »wir haben ein paar Fragen an Sie.«
»Was denn für Fragen?«, wollte Navin wissen. »Wo liegt das Problem?« Da der Beamte nicht reagierte, fügte er hinzu: »Ich bin französischer Staatsbürger. Sie dürfen mich nicht ohne Grund festhalten.«
Der Beamte schüttelte unbeeindruckt den Kopf. »Lassen Sie uns in Ruhe darüber reden. Bestimmt können wir alle … Unklarheiten schnell aus dem Weg räumen, meinen Sie nicht auch?«
»Das ist unerhört!«, schimpfte Navin, doch sein Protest prallte an der ausdruckslosen Miene seines Gegenübers ab.
Sita, die neben Navin stand, spürte ein Stechen in ihrem aufgeblähten Bauch. Krampfhaft bemühte sie sich, nicht vor Schmerz das Gesicht zu verziehen. Während sie den Beamten vom Zoll ansah, fragte sie sich für einen Moment, ob er Bescheid wusste. Die Vorstellung, beim Schmuggeln von Heroin erwischt zu werden, machte ihr große Angst.
Die Sicherheitsbeamten führten sie aus dem Kontrollbereich zu einer auf den ersten Blick kaum sichtbaren Tür an der gegenüberliegenden Wand. Navin griff nach Sitas Hand, als wollte er sie beruhigen, doch der Druck, den er dabei ausübte, machte ihr seine Nachricht unmissverständlich klar. Sitas Herz raste. Die Last in ihrem Bauch fühlte sich an wie Blei, und sie verspürte das dringende Bedürfnis, sich zu erleichtern. Sie hatte keine Ahnung, wie lange
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