Du bist in meiner Hand
unruhig vor sich hin. Sooft sie einschlief, quälten sie Albträume. Das Tosen der Flutwellen vermischte sich mit dem Rattern des Chennai Express und Shankars widerwärtigem, lustvollem Gestöhne.
Am Morgen wurde sie in die Obhut eines staatlichen Waisenhauses übergeben. Die Leiterin nahm sie mit unbeteiligter Miene in Empfang. Sie zeigte Ahalya den großen Saal, in dem die Mädchen schliefen, wies ihr eine Pritsche zu und informierte sie über die Essenszeiten. Dann ließ sie sie allein.
Ahalya blickte durch das mit Gitterstäben versehene Fenster nach draußen und fragte sich, wie lange sie wohl diese neue Form von Gefangenschaft ertragen musste. Anita hatte ihr versichert, CASE werde einen guten Platz für sie finden, aber Ahalya hatte keine Ahnung, was damit gemeint war und ob sich ihre Lebensumstände dadurch verbessern würden. Sie wünschte sich einzig und allein, wieder mit Sita vereint zu sein.
Nach drei Tagen kehrte Anita mit guten Neuigkeiten zurück: Das Jugendamt hatte Ahalyas Verlegung in einen Ashram zugestimmt, der in Andheri vom Orden der Barmherzigen Schwestern betrieben wurde. Anita brachte sie in einer Rikscha hin.
Während der Fahrt fragte Ahalya sie nach Sita. Anita erzählte ihr die Geschichte, die Inspektor Khan an Jeff Greer weitergegeben hatte. Demnach hatte Suchir im Verhör den Namen des Mannes preisgegeben, der Sita gekauft hatte – angeblich ein gewisser Navin. Allerdings hatte der Bordellbesitzer keine Ahnung, wohin dieser Mann Sita gebracht hatte. Suchir ging davon aus, dass Navin zurückkehren würde, um ihm einen noch ausstehenden Betrag zu zahlen, aber das konnte ein, zwei Monate dauern. In der Zwischenzeit würde Khan die Augen offen halten.
Als sie den Ashram erreichten, nahm Schwester Ruth, die Leiterin, sie am Tor in Empfang. Sie war eine korpulente Frau mit einem Mondgesicht und trug eine Nonnentracht. Als Ahalya auf ihre fröhliche Begrüßung nicht reagierte, wirkte sie keineswegs gekränkt.
Ahalya folgte ihr auf das Grundstück der Barmherzigen Schwestern. Der Ashram befand sich in einer weitläufigen Anlage mit Gärten, verschlungenen Pfaden und gepflegten Gebäuden. Der Weg, auf dem sie gingen, schlängelte sich zwischen hohen Bäumen hindurch. Immer wieder kamen sie an Gebäuden vorbei, die den Pfad auf beiden Seiten säumten. Schwester Ruth erklärte Ahalya mit einer derartigen Begeisterung die Räumlichkeiten, dass Ahalya gar nicht anders konnte, als ihr aufmerksam zuzuhören.
Die Schwestern betrieben eine Tagesschule, ein Waisenhaus und eine Adoptionszentrale für Säuglinge, außerdem das Erholungsheim für Mädchen, die aus der Prostitution befreit worden waren. Die Mädchen aus dem Erholungsheim besuchten den Schulunterricht und beteiligten sich an den anfallenden Arbeiten. Von allen wurde erwartet, dass sie die zehnte Klasse abschlossen. Überdurchschnittlich gute Schülerinnen durften auch noch die elfte und zwölfte Klasse absolvieren. Von Zeit zu Zeit bekam eine besonders vielversprechende Schülerin ein Stipendium für die Universität von Mumbai. Die Schwestern verfolgten bei jedem geretteten Mädchen zwei Ziele: Heilung an Leib und Seele und Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Es handle sich dabei um ein sehr ehrgeiziges Projekt, räumte Schwester Ruth ein, aber der Ashram könne eine glänzende Erfolgsrate vorweisen. Nur etwa ein Viertel der Mädchen, die das Programm absolvierten, landete wieder in der Prostitution.
Das Erholungsheim, auf das Ahalya zusammen mit Anita und Schwester Ruth zusteuerte, stand auf einem von Bäumen beschatteten Hügel. Ein leichter Nordwestwind linderte die Hitze des frühen Nachmittags. Rund um das Heim wucherten große Bougainvillea-Büsche. Als Ahalya schließlich vor der Treppe stand, die zu dem weiß verputzten Gebäude hinaufführte, fiel ihr auf, dass die Geräusche der Stadt nicht mehr zu hören waren. Weder das Hupen der Taxis und Rikschas noch das Geschrei der Händler drang an ihr Ohr. Statt Straßenlärm und Stimmengewirr hörte sie Kinderlachen und das Rauschen des Windes, der sich in den dicht belaubten Ästen eines Banyanbaumes fing.
Ahalya stieg die Stufen hinauf und erreichte eine Art Laubengang, der von einem Spalier überdacht und zu beiden Seiten von Blumen gesäumt war. Sie sah Veilchen, Primeln, Federbüsche und Ringelblumen, die in dem lehmigen Boden alle prächtig gediehen.
»Jedes Mädchen darf sich eine Pflanze aussuchen und sich dann selbst um sie kümmern«, erklärte Schwester Ruth.
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