Du bist in meiner Hand
den Boulevard. Am Himmel hingen graue Wolken, und die Luft war beißend kalt. Sita war seit knapp einem Monat nicht mehr draußen gewesen, doch nun hatte sie zu große Angst, um es genießen zu können.
Am Randstein wartete ein schwarzer Mercedes, bei dem die Warnblinkanlage lief. Dmitri hielt Sita die hintere Tür auf und ließ sie auf dem Rücksitz des luxuriös ausgestatteten Wagens Platz nehmen. Dann setzte er sich ans Steuer und gab Gas. Ein, zwei Minuten später hielten sie vor einem schweren, aus zwei Flügeln bestehenden Tor. Sie befanden sich in einer schmalen, schattigen Gasse, in der sich die Häuser dicht aneinanderdrängten.
Dmitri stieg aus und tippte einen Zahlencode in eine neben dem Tor angebrachte Tastatur, woraufhin die Flügel aufschwangen. Durch das bogenförmige Tor gelangten sie auf einen gepflasterten Hof, wo vor einer steinernen Haustreppe bereits ein Audi-Coupé und ein weißer VW-Bus parkten. Nachdem Dmitri den Wagen abgestellt hatte, führte er Sita die Treppe hinauf.
Sie sah zu, wie er einen weiteren Zahlencode in die Tastatur neben der roten Tür eingab. Das Schloss sprang auf, und sie betraten eine große Diele, in der etliche goldgerahmte Bilder hingen. Links befand sich ein Raum, der mit flauschigen Teppichen und Antiquitäten ausgestattet war, rechts ein Esszimmer mit einem auf Hochglanz polierten Holztisch und Stühlen mit hohen Rückenlehnen.
Eine Frau kam die Treppe herunter. Sita erkannte sie als die Blondine wieder, die sie im Restaurant gesehen hatte. Dmitri sprach mit ihr in einer hart klingenden Sprache, die Sita nicht verstand. Die Frau sah Sita an, ohne zu lächeln, und forderte sie mit einer Handbewegung auf, ihr zu folgen. Sie gingen die Treppe hinauf und traten in eine holzvertäfelte Bibliothek, wo die Frau ihr ein Staubtuch in die Hand drückte.
»Ich bin Tatiana«, stellte sie sich vor, ehe sie in gebrochenem Englisch hinzufügte: »Du putzen Bücherregale.«
Sita gehorchte. Es war eine große Bibliothek mit vielen Regalen. Alle Bücher waren mit einer dicken Staubschicht überzogen und sahen aus, als hätte sie schon seit Jahren niemand mehr angefasst. Sita nahm jeden einzelnen Band aus seinem Regalfach und staubte sanft Ränder und Rücken ab. Die Bibliothek erinnerte sie an ihren Vater. Er hatte sich in ihrem Haus am Meer ein Arbeitszimmer eingerichtet gehabt und seine Büchersammlung mit liebevoller Sorgfalt gepflegt. Nach dem Abendessen hatte er sich meistens an seinen Schreibtisch zurückgezogen und sich im Licht einer Lampe irgendeiner Monografie gewidmet. Sita hatte ihn oft gefragt, was er gerade lese, nur um zu sehen, wie seine Augen aufleuchteten. Obwohl seine Antworten immer sehr weitschweifig ausgefallen waren, hatte sie dabei fast jedes Mal etwas gelernt.
Für das Abstauben brauchte sie etliche Stunden. Mittags brachte ihr Tatiana ein Sandwich. Bei der Gelegenheit betrachtete sie die Regalfächer, die Sita bereits gesäubert hatte, und lächelte dünn.
»Gut«, sagte sie. »Weiter so.«
Sita hatte gerade das letzte Buch abgestaubt, als Tatiana erneut auftauchte. »Fertig?«, fragte sie, und Sita nickte. »Gut. Dmitri bringen dich jetzt nach Hause.«
Sie folgte Tatiana nach unten in die Diele. Dmitri und Wasily saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich. Neben Dmitri saß ein blondes Mädchen in Hotpants und einem rückenfreien Oberteil, den Blick auf den Boden gerichtet. Als Tatiana Dmitri etwas zurief, hob das Mädchen den Kopf und sah zu Sita herüber, wobei sich ihre Augen merklich weiteten. Ihr Blick erschütterte Sita zutiefst.
Das Mädchen hatte Angst.
Sita wandte sich ab und folgte Dmitri nach draußen. Was auch immer dem Mädchen passiert war, ging sie nichts an. Für Tatiana zu arbeiten war viel angenehmer, als ständig das Geschimpfe von Tante- ji ertragen zu müssen. Soweit es sie betraf, war die neue Arbeitsstelle eine Verbesserung.
Endlich war Lakshmi ihr wieder wohlgesinnt.
Auch am nächsten und übernächsten Tag wurde Sita von Dmitri in die Wohnung gebracht. Jeden Morgen nahm Tatiana sie in der Diele in Empfang und wies ihr eine Aufgabe zu. Sita staubte die Möbel im Wohnzimmer ab und polierte anschließend den Esszimmertisch und die Stühle. Sie putzte die Bäder und brachte den Wäscheschrank im ersten Stock in Ordnung. Sie arbeitete acht Stunden, mit einer fünfzehnminütigen Mittagspause. Tatiana war Perfektionistin, aber Sitas gründliche Arbeitsweise wurde ihren Ansprüchen durchaus gerecht.
An ihrem vierten Tag im
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