Du bist in meiner Hand
sie, dass es aus einem Luftschacht knapp unterhalb der Raumdecke drang.
Sie hörte ein Klatschen, als würde jemand auf nackte Haut schlagen, gefolgt von einem Schmerzensschrei. Ängstlich lauschte sie den Geräuschen eines Handgemenges. Eine Männerstimme erteilte barsche Befehle. Ein paar Sekunden später schrie die junge Frau erneut auf, und der Mann begann zu stöhnen. Sita umklammerte den Kissenbezug, den sie gerade hatte falten wollen, und hielt den Atem an. Ihr war klar, was sie da hörte. Der Gedanke an das, was sich in dem Raum am Ende des Ganges abspielte, erzürnte und entsetzte sie.
Nachdem Dmitri fertig war, kehrte er nach oben zurück. Sita empfand großes Mitleid mit dem Mädchen, das sie durch den Lüftungsschacht wimmern hören konnte. Sie rang mit ihrem Gewissen. Einerseits war sie diesem Dmitri, der offensichtlich keine Skrupel kannte, ebenfalls auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Andererseits hatte ihr Vater ihr beigebracht, dass es unmenschlich war, nicht zu helfen, wenn jemand Qualen litt. Sie musste daran denken, wie es Ahalya nach der Sache mit Shankar gegangen war, und zögerte nicht länger.
Vorsichtig öffnete sie die Tür des Waschraums. Ein Blick auf die Wanduhr sagte ihr, dass ihr keine zwanzig Minuten blieben, bis Tatiana sie holen würde. Rasch schlich sie bis ans Ende des Ganges, drehte vorsichtig den Türknauf und schob sich hinein.
Die junge Frau hatte sich auf dem Bett zusammengerollt und die Decke fest um ihren Körper geschlungen. Am Fußende lag ein Häufchen Kleidung und Unterwäsche von der Sorte, wie Sita sie gerade gewaschen hatte. Außerdem registrierte Sita drei Stative mit Videokameras und eine ganze Reihe von Lampen, die alle auf das Bett ausgerichtet waren. Verwirrt starrte sie auf die bizarre Szenerie. Dann begriff sie.
Mit ziemlicher Sicherheit hatten die Kameras die Vergewaltigung aufgezeichnet.
Mit einem flauen Gefühl im Magen ging sie neben dem Bett in die Knie. Als sie das Mädchen an der Schulter berührte, drehte es sich stöhnend auf die andere Seite. Sita umrundete das Bett und kniete sich erneut hin. Vorsichtig griff sie nach der Hand des Mädchens, das darauf die Augen aufschlug und sich in eine sitzende Position hievte.
»Sprichst du Englisch?«, fragte Sita, die befürchtete, dass ihr Gegenüber sie nicht verstehen würde.
»Ein bisschen«, antwortete das Mädchen mit starkem Akzent. »Wer bist du?«
»Ich heiße Sita.« Sie bemühte sich, langsam zu sprechen. »Ich arbeite hier im Haushalt.«
Dem Mädchen liefen inzwischen Tränen übers Gesicht. »Ich bin Natalia. Woher kommst du?«
»Aus Indien.«
»Ich aus Ukraine.«
»Warum bist du nach Frankreich gekommen?«
»Wegen Arbeit. Bewerben bei Agentur. Männer nehmen Pass und bringen hierher.«
Sita ging durch den Kopf, wie unterschiedlich ihre Wege verlaufen waren und wie erschreckend ähnlich ihre Situation gleichzeitig war. Als sie oben den Holzboden knarren hörte, bekam sie es mit der Angst zu tun.
»Ich muss gehen«, flüsterte sie gehetzt. »Ich werde für dich beten.«
Natalia sah Sita mit einem zaghaften Lächeln an. »Danke«, sagte sie leise.
17
Die Hoffnung mag schwinden,
aber sterben kann sie nicht.
PERCY BYSSHE SHELLEY
Mumbai – Indien
Wochen vergingen, doch die Polizei fand keine Spur von Sita oder Navin. Andrew Porter antwortete auf Thomas’ E-Mail und versprach ihm, Sitas Foto an Interpol weiterzuleiten. Allerdings fügte er hinzu, die Datenbank ICAID bringe nur etwas, wenn ein vermisstes Mädchen im Internet auftauche oder zufällig in einem der Interpol-Mitgliedstaaten von der Polizei aufgegriffen werde. Andernfalls seien die Chancen, sie zu finden, sehr gering.
Andrew schloss mit einer guten Nachricht:
Übrigens hat die Polizei von Fayetteville Fortschritte im Fall von Abby Davis gemacht. Wir wissen inzwischen, dass sie sich noch in der Stadt befindet, und tun unser Bestes, um ihren genauen Aufenthaltsort aufzuspüren. Bedauerlicherweise sieht es so aus, als hätte dein Vater recht gehabt mit seiner Vermutung, es könnte ein Fall von Menschenhandel vorliegen. Ich halte dich auf dem Laufenden.
Während Thomas mit einem Bier in der Hand auf Dineshs Balkon saß, musste er an Abbys Mutter denken und fragte sich, wie sie wohl mit der zermürbenden Warterei zurechtkam. Rückblickend überlegte er, inwieweit seine derzeitige Situation wohl durch ihre zufällige Begegnung beeinflusst worden war. Hätte er sich überhaupt für CASE interessiert, wenn Abby nicht
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