Du bist in meiner Hand
Haus kam es ohne jede Erklärung zu einer Änderung in Sitas morgendlichem Arbeitsablauf. Nachdem Dmitri den Wagen abgestellt hatte, führte er sie zurück über den Hof in Richtung Straße. Unter der überdachten Durchfahrt blieb er vor einer Glastür stehen, die Sita bisher nie aufgefallen war, und tippte einen Zahlencode in die neben der Tür angebrachte Tastatur. Sie hörte ein Schloss aufspringen und folgte ihm in ein modrig riechendes Treppenhaus, aus dem eine Wendeltreppe nach oben führte.
Dmitri bedachte sie mit einem strengen Blick. »Du redest mit niemandem über das, was du siehst«, erklärte er in überraschend flüssigem Englisch. »Tu, was ich dir sage, und behalte den Rest für dich. Wenn nicht, hat das für dich schlimme Konsequenzen. Kapiert?«
Sita bekam kaum Luft. Sie musste an das blonde Mädchen denken, das am ersten Tag auf der Couch gesessen hatte, und fragte sich, ob sie nun am eigenen Leib erfahren würde, was dem Mädchen solche Angst gemacht hatte.
Sie nickte und folgte Dmitri nach oben. Sie erreichten einen Treppenabsatz mit zwei Türen. Dmitri öffnete die rechte, und Sita trat hinter ihm auf einen Gang, der nur von einer einzelnen nackten Glühbirne beleuchtet wurde. Nachdem Dmitri einen Schlüsselbund aus der Tasche gezogen hatte, ging er den Gang entlang und sperrte sechs Türen auf. Dabei bellte er ein paar Worte in seiner seltsamen Sprache und holte dann aus einem Schrank am Ende des Ganges einen Korb.
Nacheinander kamen sechs junge Frauen aus den Zimmern. Sie trugen T-Shirts und Gymnastikhosen. Die Letzte erkannte Sita als die junge Frau wieder, die sie auf der Couch gesehen hatte. Sie musste an die Sexräume in Suchirs Bordell denken. Obwohl sie keine Ahnung hatte, was Dmitri mit den Mädchen anstellte, verrieten ihr die Schlösser an den Türen, dass sie sich nicht freiwillig hier aufhielten.
Dmitri reichte ihr den Korb und sagte auf Englisch: »Zieh die Betten ab und sammle auch die schmutzige Kleidung ein.«
Sita betrat das erste Zimmer. Es war ein kleiner, schwach beleuchteter Raum, der nur einem schmalen Bett und einer Kommode Platz bot. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Fenster, dessen Jalousie jedoch zugezogen und an den Rändern mit Heftklammern am Rahmen befestigt war. Sita zog das Bett ab und sammelte ein Häufchen Spitzendessous auf, die in der Ecke auf dem Boden lagen. Ebenso verfuhr sie auch in den anderen Räumen. In allen war die Einrichtung spärlich und trist, das Fenster verschlossen und die gleiche unsichtbare Bedrohung spürbar.
Die Mädchen verschwanden nacheinander im Bad und kehrten dann auf den Gang zurück, während Sita weiter ihre Arbeit machte. Nachdem sie das letzte Bett abgezogen hatte, reichte sie Dmitri den Korb. Dabei brachte sie es nicht fertig, die Mädchen anzusehen, deren einsame Gefangenschaft sie an Ahalya erinnerte. Dmitri sagte ein paar für Sita unverständliche Worte, woraufhin die Mädchen in ihre Zimmer zurückkehrten. Keines von ihnen hatte während der vergangenen Viertelstunde auch nur einen Mucks von sich gegeben.
Dmitri sperrte die Türen wieder ab und führte Sita zurück in Wasilys Wohnung, wo Tatiana sie in der Diele in Empfang nahm. Sie führte Sita hinunter in den Waschkeller, erklärte ihr dort die Bedienung der Waschmaschine und ließ sie dann allein. Während Sita Bettwäsche und Kleidung auseinandersortierte, versuchte sie, nicht an das zu denken, was sie gesehen hatte. Sie wollte diese Leute nicht hassen, konnte aber auch nicht vergessen, dass keine zwanzig Meter entfernt sechs Mädchen in einem provisorischen Gefängnis eingesperrt waren. Verdiente Dmitri sich sein Geld womöglich als Zuhälter, genau wie Suchir?
Kurz vor drei hörte Sita auf der Kellertreppe schwere Schritte. Da die Tür zum Waschraum nicht ganz geschlossen war, konnte sie durch den Spalt ein Stück des Ganges sehen. Sie spähte genau in dem Moment hinaus, als Dmitri in Sicht kam. Eine Sekunde später erhaschte sie einen kur zen Blick auf blondes Haar und das Profil einer jungen Frau. Sita war fast sicher, dass es sich um das Mädchen handelte, das sie auf der Couch gesehen hatte.
Dmitri zerrte das Mädchen den Gang entlang. Eine Tür wurde geöffnet und gleich wieder zugeknallt. Nach einer kurzen Pause hörte Sita eine weibliche Stimme. Die einzelnen Worten waren kaum zu verstehen und klangen wie von einem seltsamen Echo verzerrt. Anfangs war Sita der Meinung, das Geräusch durch die Wand hindurch zu hören, doch dann begriff
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