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Du bist nie allein

Du bist nie allein

Titel: Du bist nie allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Sparks
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Lohnschecks einlöste. Die siebenunddreißig Dollar hatte sie zusammengeklaubt – Münzen, die ihm aus den Taschen gefallen waren, während er vor dem Fernseher döste. Die Mutter hatte das Geld in einer Schachtel Waschpulver auf dem obersten Bord in der Vorratskammer versteckt, und jedes Mal wenn Vernon dort vorbeiging, hatte ihr das Herz in der Brust gehämmert.
    Diesmal ging sie für immer. Diesmal würde er sie nicht zur Rückkehr bewegen können. Sie würde ihm nicht glauben, egal, wie sehr er betteln und wie hoch und heilig er Besserung geloben mochte. Wenn sie abermals nachgab und bei ihm blieb, würde er sie umbringen. Vielleicht nicht in diesem Monat oder im Monat darauf, aber umbringen würde er sie. Und auch ihren Sohn. All das schärfte sie sich immer wieder ein wie ein Mantra, als könnten die Worte ihr die Kraft zur Flucht verleihen.
    Richard konnte sich noch genau an den Tag erinnern. Wie seine Mutter ihn nicht zur Schule geschickt hatte, wie sie ihn angewiesen hatte, ins Haus zu laufen und das Brot und die Erdnussbutter zu holen, weil sie ein Picknick machen wollten. Wie sie ihm gesagt hatte, er solle auch eine Jacke mitbringen, für den Fall, dass es kühl wurde. Richard war sechs Jahre alt und tat, was seine Mutter ihm sagte, obwohl er wusste, dass sie log.
    In der Nacht zuvor hatte er im Bett gelegen und seine Mutter schreien und weinen gehört. Den lauten Knall, als die Hand seines Vaters ihre Wange traf. Wie seine Mutter gegen die dünne Wand krachte, die sein Zimmer von ihrem trennte, wie sie jammerte und ihren Mann anflehte, aufzuhören. Dass es ihr Leid tat, dass sie fest vorgehabt hatte, die Wäsche zu waschen, stattdessen aber mit Richard zum Arzt musste. Er hatte gelauscht, wie Vernon seine Mutter beschimpfte und ihr dieselben Vorwürfe machte wie immer, wenn er getrunken hatte. »Er ähnelt mir überhaupt nicht!«, hatte sein Vater gebrüllt. »Er ist nicht von mir!«
    Während Richard im Bett dem Geschrei lauschte, hatte er gebetet, dass es wahr sein möge. Er wollte nicht, dass dieses Scheusal sein Vater war. Er hasste ihn. Hasste den öligen Glanz in seinem Haar, mit dem er aus der Chemiefabrik heimkam. Hasste es, wie er abends immer nach Fusel stank. Hasste, dass er, Richard, anders als die anderen Kinder in der Siedlung, die Fahrräder und Rollschuhe zu Weihnachten bekamen, einen Baseballschläger bekommen hatte, aber weder Handschuh noch Ball. Hasste es, wie Vernon seine Mutter verdrosch, wenn das Haus ihm nicht sauber genug war oder wenn er irgendetwas nicht wiederfand, das seine Mutter weggeräumt hatte. Hasste es, dass bei ihnen immer die Vorhänge zugezogen waren und sie nie Besuch bekamen.
    »Beeil dich«, sagte seine Mutter mit einer ungeduldigen Handbewegung, »wir wollen doch im Park einen guten Tisch bekommen.«
    Richard rannte ins Haus.
    Eine Stunde später würde sein Vater zum Mittagessen nach Hause kommen, wie jeden Tag. Obwohl er zu Fuß zur Arbeit ging, nahm er stets die Autoschlüssel mit, zusammen mit einem Sammelsurium anderer Schlüssel, das an einer Kette an seinem Gürtel hing. Doch seine Mutter hatte am Morgen einen Schlüssel entwendet, während sein Vater Zeitung las und die Eier mit Speck verzehrte, die seine Frau ihm gebraten hatte.
    Sie hätten gleich aufbrechen sollen, sobald sein Vater auf dem Weg zur Fabrik über den Hügel verschwunden war. Doch seine Mutter hatte stattdessen stundenlang am Tisch gesessen und mit zittrigen Händen eine Zigarette nach der anderen geraucht. Sie hatte weder gesprochen noch sich vom Fleck gerührt, bis vor ein paar Minuten.
    Und nun wurde die Zeit knapp. Sie geriet in Hektik bei dem Gedanken, dass sie es womöglich nicht schafften. Wieder einmal.
    Richard kam aus dem Haus gestürmt, mit dem Brot und der Erdnussbutter und seiner Jacke, und rannte zum Auto. Er knallte die Tür des Pontiac hinter sich zu, und seine Mutter versuchte den Schlüssel in die Zündung zu stecken, scheiterte aber, weil ihre Hand so zitterte. Sie holte tief Luft und versuchte es noch einmal. Diesmal sprang der Motor an, und sie versuchte zu lächeln. Durch die geschwollene Lippe bekam sie jedoch nur ein schiefes Grinsen zustande, das gemeinsam mit dem verfärbten Gesicht und dem blutunterlaufenen Auge furchteinflößend wirkte. Sie legte den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Garage. Auf der Straße hielt sie noch einmal kurz an und schaute aufs Armaturenbrett.
    Und dann stockte ihr der Atem. Die Benzinuhr zeigte an, dass der Tank fast leer

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