Du bist nie allein
okay?«
Singer spitzte die Ohren.
»Und benimm dich«, fügte Julie beim Aussteigen hinzu.
Richard stand inzwischen in der Auffahrt.
»Hallo, Julie«, sagte er.
»Hi, Richard«, sagte sie zurückhaltend. »Was machst du denn hier?«
Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich hatte ein paar Minuten Zeit und dachte, ich komm auf einen Sprang vorbei. Ich war auch schon im Salon, aber da warst du wohl schon weg.«
»Ich habe Singer gesucht. Er war drüben in der Werkstatt.«
Richard nickte. »Hat Mabel auch gesagt. Ich konnte aber nicht warten – musste vor Feierabend noch ein paar Blaupausen ins Büro bringen, und leider muss ich auch gleich wieder weg. Aber ich wollte mich wegen heute Morgen entschuldigen. Ich hab mich wohl etwas seltsam benommen.«
Er lächelte zerknirscht, wie ein Kind, das beim Griff in die Keksdose ertappt wurde.
»Also…«, fing Julie an, doch Richard unterbrach sie mit erhobener Hand. »Ich weiß, ich weiß. Keine Erklärungen. Ich wollte nur sagen, es tut mir Leid.«
Julie strich eine Haarsträhne zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war. »Findest du es wirklich so schlimm, wenn ich das Medaillon zur Arbeit nicht trage?«
»Nein«, sagte er. »Glaub mir – darum ging es nicht.«
»Worum ging es dann?«
Richard schaute fort. Seine Stimme war so leise, dass Julie ihn kaum verstand.
»Wir hatten so ein schönes Wochenende, und als ich dann feststellte, dass du das Medaillon nicht trägst, fürchtete ich, du hättest das anders empfunden. Ich hatte Angst, dich enttäuscht zu haben. Ich meine… du weißt nicht, wie sehr ich die Stunden genossen habe! Verstehst du, was ich sagen will?«
Julie überlegte kurz und nickte dann.
»Ich wusste, dass du es verstehen würdest«, sagte Richard und blickte unruhig um sich, als wäre er in ihrer Gegenwart plötzlich nervös. »Tja, hör mal – wie gesagt, ich muss zurück zur Arbeit.«
»Okay«, sagte Julie nur und lächelte gequält.
Einen Augenblick später war er fort. Diesmal hatte er ihr keinen Kuss gegeben.
Kapitel 12
I m Dunkeln ging Richard auf die Tür des Viktorianischen Hauses zu, das er vorübergehend sein Heim nannte. Es befand sich draußen am Stadtrand, inmitten von Feldern, ungefähr hundert Meter abseits der Hauptstraße, und war von hoch aufragenden, dunklen Kiefern umgeben. Obwohl der Besitzer das Gebäude ziemlich vernachlässigt hatte, besaß es einen altmodischen Charme. Auch das Grundstück war verwahrlost. Der einstmals wohl gepflegte Garten war nun überwuchert von Unkraut, aber diese Verwilderung störte Richard nicht.
Im Haus aber legte er Wert auf Ordnung. Er trat ein und schaltete das Licht an. Das Mobiliar, das er mitgemietet hatte, entsprach nicht seinem Geschmack, aber in einer Kleinstadt wie Swansboro konnte man nicht wählerisch sein. Und so lebte Richard vorübergehend zwischen gelbbraunen Cord-Sofas, Beistelltischen in Eichenfurnier und Plastiklampen mit Füßen aus Messingimitat.
An diesem Abend jedoch nahm er die Einrichtung gar nicht wahr. An diesem Abend beherrschte Julie seine Gedanken. Und das Medaillon. Und wie sie ihn eben angesehen hatte.
Wieder hatte er sie zu sehr gedrängt, und wieder hatte sie ihm Paroli geboten. Langsam entpuppte sie sich als Herausforderung, aber das gefiel ihm. Das respektierte er, denn am meisten verachtete er Schwäche.
Warum um alles in der Welt lebte sie in solch einem Kaff?
Julie gehörte in die Großstadt, in das Gewimmel belebter Bürgersteige und blinkender Ampeln. Sie war zu gescheit, zu lebhaft für ein Kaff wie dieses. Hier gab es keine Energie, die sie beflügelte, nichts, was sie auf lange Sicht am Leben halten würde. Wenn Julie hier bliebe, das stand fest, würde sie schwach werden, ganz wie seine Mutter schwach geworden war. Und über kurz oder lang würde man jeden Respekt vor ihr verlieren.
Ganz wie bei seiner Mutter. Das Opfer. Immer war sie das Opfer gewesen.
Richard schloss die Augen und kehrte in Gedanken in die Vergangenheit zurück, in das Jahr 1974.
Mit zugeschwollenem linkem Auge und lila verfärbter Wange lud seine Mutter so schnell sie konnte einen Koffer ins Auto. In dem Gepäckstück befand sich Kleidung für sie beide. In ihrem Portemonnaie hatte sie siebenunddreißig Dollar in kleinen Münzen. Es hatte fast ein Jahr gedauert, diesen Betrag zusammenzusparen. Vernon verwaltete das Geld und gab ihr gerade genug zum Einkaufen. Das Scheckheft durfte sie nicht anrühren, und sie wusste nicht einmal, bei welcher Bank er seine
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