Du bist nie allein
Augenwinkel sah sie Singer neben der Tür sitzen, den Blick aus dem Fenster gerichtet, als wollte er gern hinaus. Sie hatte seit dem Vorabend ständig über den gemeinsam verbrachten Abend nachgedacht. Mike galt ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen, und er kam ihr auch als Erstes in den Sinn, als sie morgens die Augen aufschlug.
So fiel ihr, als sie zur Tür ging, um Singer hinauszulassen, die Antwort leicht.
»Ja«, sagte sie, »er ist ein Prachtkerl.«
»Mike!«, rief Henry, »Besuch für dich.«
Mike steckte den Kopf aus dem Lagerraum. »Wer denn?«
»Rate doch mal.«
Noch ehe er etwas sagen konnte, tauchte Singer neben ihm auf.
Es war schon später Nachmittag, als Julie zur Werkstatt hinübermarschierte. Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte Singer an.
»Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich das Ganze für eine Art Plan halten, damit ich nur ja hierher komme«, sagte sie.
Mike tat bei ihren Worten sein Bestes, Singer telepathisch seinen Dank zu übermitteln.
»Vielleicht versucht er dir etwas mitzuteilen.«
»Und was bitte?«
»Keine Ahnung. Womöglich, dass er in letzter Zeit nicht genügend Aufmerksamkeit bekommt.«
»Oh, davon bekommt er mehr als genug. Lass dich von ihm nicht täuschen. Er ist sehr verwöhnt.«
Mike öffnete die Schnallen an seinem Overall.
»Entschuldige bitte«, sagte er, »aber das Teil macht mich wahnsinnig. Ich habe aus Versehen Benzin darauf gekippt und muss schon den ganzen Tag die Dämpfe einatmen.«
»Dann bist du wohl ein bisschen bedröhnt, was?«
»Nein, hab nur Kopfweh.«
Julie sah zu, wie er sich aus dem Overall pellte, ihn zusammenknüllte und in eine Ecke warf. In Jeans und rotem T-Shirt sah er jünger aus, als er war, fand sie.
»Und, was steht heute Abend bei dir an?«, fragte sie.
»Das Übliche halt. Die Umwelt retten, die Hungrigen speisen, den Weltfrieden fördern.«
»Schon erstaunlich, was man alles an einem Abend erledigen kann.«
»Wohl wahr.«
Mike grinste jungenhaft. Doch als Julie sich durchs Haar fuhr, überkam ihn plötzlich dieselbe Nervosität wie am Vorabend, als er ihre Küche betrat.
»Und du? Hast du auch irgendwas Aufregendes vor?«
»Nein. Ich will zu Hause ein bisschen putzen und ein paar Rechnungen bezahlen. Im Gegensatz zu dir muss ich mich erst um den Kleinkram kümmern, bevor ich losziehe, um die Welt zu retten.«
Mikes Blick fiel auf Henry, der, ganz vertieft in den Stapel Papiere in seiner Hand, am Türpfosten lehnte, als bemerke er Mike und Julie gar nicht. Dabei wusste Mike, dass er nur dort stand, damit sein Bruder nicht vergaß, was er vorhin gesagt hatte. Mike schob die Hände in die Taschen. Er wusste zwar, dass er es tun musste, aber er hatte keine Lust dazu. Dann atmete er tief durch.
»Hast du noch ein paar Minuten Zeit?«, fragte er. »Es gibt etwas, was ich dir gern erzählen würde.«
»Klar. Worum geht’s denn?«
»Können wir woanders hingehen? Ich glaube, ich brauche erst mal ein Bier.«
Julie war zwar verblüfft, weil Mike plötzlich so ernst war, aber insgeheim auch erfreut über seinen Vorschlag.
»Ein Bier wäre gut«, sagte sie.
Tizzy’s lag nur ein paar Schritte die Straße hoch, zwischen einer Tierhandlung und einer chemischen Reinigung. Ähnlich wie im Sailing Clipper war es hier weder sauber noch besonders gemütlich. In der Ecke der Kneipe plärrte ein Fernseher, die Fenster starrten vor Schmutz, und die Luft war voller Qualm, der sich von den Tischen hochkräuselte wie die Blasen in einer Lavalampe. Die Stammgäste aber störte das nicht, und es gab sogar ein halbes Dutzend Leute, die praktisch im Tizzy’s wohnten. Tizzy Welborn, der Besitzer, führte die Beliebtheit seines Ladens darauf zurück, dass er »Charakter« hatte. Mike vermutete, mit Charakter meinte er billigen Alkohol.
Was Tizzy darüber hinaus auszeichnete, war, dass es nicht sehr förmlich bei ihm zuging. Man brauchte weder feste Schuhe noch Hemd zu tragen, um bedient zu werden, und es war ihm auch gleichgültig, was Gäste alles anschleppten. Im Laufe der Jahre hatte man hier wirklich alles schon gesehen, von Samuraischwertern bis hin zu aufblasbaren Sexpuppen. In die Kategorie eigenartige Mitbringsel fiel auch Singer, so wenig Julie das auch wahrhaben wollte. Als Mike und Julie es sich auf Barhokkern am hinteren Ende der Theke gemütlich machten, drehte sich Singer einmal um die eigene Achse und legte sich dann hin.
Tizzy nahm ihre Bestellung auf und stellte ihnen dann zwei Flaschen Bier
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