Du bist nie allein
Mike rückte mit dem Schaukelstuhl etwas zurück, um sie vorbeizulassen. Er sah ihr nach und stellte unwillkürlich fest, dass Jeans ihr sehr gut standen.
Kopfschüttelnd verscheuchte er den Gedanken. Das passte jetzt gar nicht. Schließlich saßen sie als gute Freunde zusammen. So wie früher immer – bevor er so verrückt war, sich in Julie zu verlieben.
Er wusste immer noch nicht genau, wann es geschehen war. Es geschah erst eine ganze Weile nach Jims Tod, so viel stand fest. Es war nicht etwa so gewesen, dass plötzlich ein Licht aufflammte. Eher war es wie ein Sonnenaufgang, bei dem der Himmel langsam heller wird, fast unmerklich, bis man feststellt, dass es Morgen ist.
Julie kam wieder heraus, reichte ihm die Flasche und setzte sich.
»Hier habe ich mit Jim auch oft gesessen.«
Julie seufzte. »Denkst du auch noch an ihn?«
Mike nickte. »Sehr oft.«
»Ich auch.«
»Das glaube ich. Er war ein guter Kerl. Besser hättest du es nicht treffen können. Und zu mir hat er immer gesagt, er hätte es auch nicht besser treffen können.«
Julie wippte sachte in ihrem Schaukelstuhl hin und her. Was Mike sagte, gefiel ihr sehr. »Du bist auch ein guter Kerl.«
»Stimmt – ich und ungefähr eine Million andere. Ich bin nicht wie Jim.«
»Aber sicher. Ihr seid aus derselben Kleinstadt, ihr hattet dieselben Freunde, dieselben Interessen. Bei euch hatte man viel eher das Gefühl, dass ihr Brüder seid, als bei dir und Henry. Abgesehen davon natürlich, dass Jim nie eine neue Mischbatterie hätte anschließen können. Er konnte überhaupt nichts reparieren.«
»Tja, Henry hätte das auch nicht hinbekommen.«
»Wirklich nicht?«
»Nun, Henry hätte es auch
gekonnt.
Aber er hätte es nicht
getan.
Er macht sich ungern die Hände schmutzig.«
»Schon komisch, wo ihr beide doch die Werkstatt habt.«
»Da hast du Recht. Aber es stört mich nicht. Ehrlich gesagt, meine Arbeit gefällt mir wesentlich besser als seine. Hab nicht viel übrig für Büroarbeit.«
»Ein Job bei einem Kreditinstitut wäre also nichts für dich, was?«
»Niemals. Erstens würde mir keiner so einen Job geben, und zweitens würde ich spätestens nach einer Woche wieder vor der Tür sitzen. Bei mir bekäme jeder ein Darlehen, der eins braucht. Ich kann ganz schlecht Nein sagen.«
Julie berührte ihn am Arm. »Och, wirklich?«
Mike lächelte sprachlos und wünschte sich von ganzem Herzen, die Berührung würde ewig dauern.
Wenige Minuten später wurde die Pizza gebracht. Ein pickeliger Teenager mit klobiger schwarzer Hornbrille stierte erst eine halbe Ewigkeit auf die Rechnung, bis er den Endbetrag stammelte.
Mike wollte zur Brieftasche greifen, aber Julie hatte das Portemonnaie schon in der Hand und drängte ihn beiseite.
»Lass es sein. Ich bezahle.«
»Aber ich esse vermutlich viel mehr als du.«
»Du kannst die Pizza auch ganz essen, ich bezahle trotzdem.«
Bevor Mike weitere Einwände erheben konnte, reichte Julie dem Pizzaboten das Geld und trug dann den Karton in die Küche.
»Darf ich Pappteller nehmen?«
»Ich esse ständig von Papptellern.«
»Weiß ich«, sagte sie augenzwinkernd. »Und ich kann dir gar nicht sagen, wie Leid du mir tust.«
Kurz darauf aßen sie unter einvernehmlichem Geplauder, wie schon so oft. Sie unterhielten sich über Jim und Geschichten von früher, und schließlich verlagerte sich das Gespräch auf Neuigkeiten aus dem Ort und gemeinsame Bekannte. Ab und zu ließ Singer ein Winseln vernehmen, als fühle er sich vernachlässigt. Mike warf ihm dann ein Häppchen hin, ohne das Gespräch zu unterbrechen.
Der Abend verstrich, und Julie merkte, dass sie Mikes Blicke länger festhielt als sonst. Das wunderte sie. Schließlich hatte er nichts Ungewöhnliches gesagt oder getan, seit er da war. Es lag auch nicht daran, dass sie allein auf der Veranda saßen und zusammen zu Abend aßen.
Nein, es gab keinen Grund, warum sie plötzlich anders empfand, aber sie war machtlos dagegen. Und im Grunde hatte sie gegen das Gefühl auch gar nichts einzuwenden. Süß sah Mike aus, in Turnschuhen und Jeans, die Beine aufs Geländer gelegt, das Haar zerzaust wie der Junge von nebenan. Aber das wusste Julie schließlich immer schon!
Mit Mike zusammen zu sein war so ganz anders als das, was sie in letzter Zeit mit Richard erlebt hatte. Er war nicht angeberisch, man musste hinter dem, was er sagte, keine verborgene Doppeldeutigkeit vermuten, er versuchte nicht, bei Julie Eindruck zu schinden. Und Julie konnte sich ganz
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