Du bist nie allein
unbefangen war sie auch nicht, und er machte es ihr nicht unbedingt leichter. So wie er jedes Mal, wenn sie ihr Glas berührte, die Augen aufriss, hätte sie ihn am liebsten gefragt, ob er noch nie gesehen hätte, wie jemand Wein trank. Beim ersten Mal hatte sie sogar gedacht, er wolle sie warnen, weil ein Insekt in ihrem Wein gelandet war.
Beim Essen dachte Julie mehrfach an Jim und stellte unwillkürlich Vergleiche an. Zu ihrer Überraschung schnitt Mike ganz gut ab, so unbeholfen er sich auch anstellte. Mike würde nie sein wie Jim, aber in seiner Gesellschaft fühlte sich Julie ein wenig so, wie sie es aus den guten Zeiten ihrer Ehe in Erinnerung hatte. Und wie bei Jim war sie sich sicher, dass Mikes Liebe zu ihr nicht oberflächlich war, sondern auch in der Zukunft Bestand haben würde. Nur während eines kurzen Moments beim Essen beherrschte das Gefühl des Verrats ihre Gedanken, so als würde Jim über sie beide wachen, doch es verging so schnell, wie es gekommen war. Und gleich darauf durchströmte sie zum ersten Mal ein warmes Gefühl, wie eine Zusicherung, dass Jim nichts gegen eine Beziehung zwischen Mike und Julie einzuwenden hätte.
Der Mond war bereits aufgegangen, als sie ihr Mahl beendeten, und warf einen Fächer weißen Lichts auf das dunkle Wasser.
»Wie wär’s mit einem Spaziergang?«, schlug Mike vor.
»Hört sich gut an«, sagte Julie und stellte ihr Glas auf den Tisch.
Mike stand auf. Julie zupfte ihr Kleid glatt und zog den Träger hoch, der ihr von der Schulter gerutscht war. Mike streifte sie, als er ans Geländer trat, und über dem Salzwassergeruch nahm sie sein Rasierwasser wahr. Mike beugte sich vor, um Singer ausfindig zu machen. Sein Gesicht lag im Schatten, doch als er den Kopf umwandte, wurde er vom Mondlicht angestrahlt, wodurch er Julie seltsam fremd erschien. Seine Finger lagen auf dem eisernen Geländer. Sie waren ölverschmiert, und wieder einmal fiel ihr auf, wie sehr sich Mike von dem Mann unterschied, der sie einst zum Traualtar geführt hatte.
Nein, dachte sie lächelnd, ich bin nicht verliebt in Mike.
Zumindest noch nicht.
»Du warst eben beim Essen plötzlich so still«, sagte Mike. Sie spazierten direkt am Wasser entlang, hatten die Schuhe ausgezogen, und Mike hatte sich die Hose hochgekrempelt. Singer trabte voraus, die Nase dicht am Boden, um nach Krabben zu stöbern.
»Hab nur nachgedacht«, murmelte Julie.
»Über Jim?«
Sie sah Mike an. »Woher weißt du das?«
»Den Gesichtsausdruck hab ich oft genug gesehen. Du wärst eine miserable Pokerspielerin.«
Er tippte sich an die Augen. »Mir entgeht nichts.« »Ach ja? Was hab ich denn genau gedacht?«
»Du hast gedacht… dass du froh bist, ihn geheiratet zu haben.«
»Oh, das ist aber sehr vage.«
»Aber ich habe doch Recht, oder?«
»Nein.«
»Worüber hast du denn nachgedacht?«
»Unwichtig.«
»Dann verrät’s mir.«
»Na schön. Ich habe über seine Finger nachgedacht.« »Seine Finger?«
»Ja. Du hast Öl an den Fingern. Mir ging durch den Sinn, dass ich während meiner gesamten Ehe mit Jim nie gesehen habe, dass seine Finger so aussahen wie deine.«
Mike versteckte verlegen die Hände hinter dem Rücken. »Oh, das war nicht böse gemeint«, sagte sie. »Ich weiß ja, dass du es nicht verhindern kannst. Deine Hände müssen so dreckig sein.«
»Meine Hände sind nicht dreckig. Ich wasche sie mir ständig. Das Öl hat sich nur schon in der Haut festgesetzt.«
»Nun reg dich nicht auf. Du weißt doch, was ich meine.
Außerdem gefällt es mir irgendwie.«
»Wirklich?«
»Es bleibt mir ja kaum etwas anderes übrig. Das gehört schließlich mit zum Gesamtpaket.«
Mikes Herz schlug schneller. Er wollte dennoch unbedingt das Thema wechseln. »Hast du wohl Lust, morgen Abend noch einmal auszugehen? Wir könnten nach Beaufort fahren.«
»Klingt nicht übel.«
»Aber Singer müsste diesmal zu Hause bleiben.« »Kein Problem. Er ist ja schon groß.«
»Hast du einen besonderen Wunsch für morgen?« »Diesmal musst du etwas aussuchen. Ich habe heute meine Pflicht erfüllt.«
»Und du hast die richtige Wahl getroffen.«
Mike sah Julie verstohlen an und griff nach ihrer Hand.
»Was für eine tolle Idee, zum Strand zu fahren! Der Abend ist wunderschön.«
Julie verschränkte lächelnd ihre Finger mit seinen. »Ja, das stimmt«, pflichtete sie ihm bei.
Ein paar Minuten später kehrten sie um, weil Julie langsam kalt wurde. Mike ließ ihre Hand nur ungern los, selbst als sie bei seinem Wagen
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