Du bist nie allein
ein ganz leises Flüstern zu vernehmen, unmöglich zu verstehen, und sie beugte sich dicht über den Lautsprecher, lauschte angestrengt und wollte gerade den Finger auf die Löschtaste drücken, als sie verstand.
Mit schreckgeweiteten Augen vernahm sie den Refrain eines Liedes, das sie auswendig kannte.
Ein Lied, das sie auch an jenem Abend mit Mike in Beaufort gehört hatte, zwei Wochen zuvor.
»Bye, bye, Miss American Pie…«
Kapitel 26
A ls Mike Julie schreien hörte, rannte er ins Haus. Sie stand leichenblass am Anrufbeantworter und drückte immer wieder auf die Löschtaste.
»Was ist passiert?«, fragte Mike erschrocken. »Fehlt dir was?«
Julie hörte ihn kaum. Sie zitterte. Bilder schossen ihr durch den Kopf, eins nach dem anderen, bis ihr übel war.
Richard
war
also heute am Strand gewesen – das wusste sie nun. Richard
war
der mysteriöse Anrufer – das stand völlig außer Zweifel. Und noch viel mehr. Richard hatte sie auch in Beaufort beobachtet – als sie und Mike zu Abend aßen, bei ihrem Spaziergang im Park und sogar in jenem letzten Lokal, denn er wusste, welches Lied Mike für sie gesungen hatte. Womöglich war er sogar derjenige gewesen, der ihre Getränke bezahlt hatte.
Er hatte in der Nacht angerufen, als Mike da war. Und er hatte Julie auf dem Friedhof beobachtet.
Überall
war er dabei gewesen.
Das kann nicht wahr sein, dachte sie, während sich ihr die Kehle zuschnürte. Und doch war es so. Auf einmal fühlte sie sich fürchterlich schutzlos. Die Küche war zu hell, die Vorhänge durften nicht offen stehen, das Fenster ging fatalerweise hinaus auf den Wald, wo sich jeder verstecken konnte. Wo
er
sich verstecken konnte.
Die Schatten draußen wurden länger, und am Himmel zogen Wolken auf. Wenn Richard sie heute beobachtet hatte, wenn er sie
immer
beobachtet hatte, beobachtete er sie vermutlich auch jetzt.
Im Garten hob Singer die Nase und bellte.
Mit hämmerndem Herzen suchte Julie Halt bei Mike und barg das Gesicht an seiner Brust. Tränen flossen über ihre Wangen.
Solche Typen hören nicht auf,
hatte Emma gesagt. »Julie? Bitte… sag mir, was passiert ist«, flehte Mike. »Was ist los?«
Endlich antwortete sie, mit rauer, leiser Stimme: »Ich habe Angst.«
Julie zitterte immer noch, als sie wenige Minuten später mit Mike ins Auto stieg. An Schlafen war jetzt natürlich nicht zu denken, sie würde ohnehin kein Auge zubekommen. Und allein im Haus zu bleiben, während Mike zum Clipper fuhr, kam auch nicht infrage. Mike hatte ihr angeboten, den Auftritt abzusagen, aber das lehnte sie ab, aus Furcht, sie würden dann nur den ganzen Abend zu Hause sitzen und sich verrückt machen.
Nein, sie brauchte jetzt Ablenkung. Ein lustiger Abend, laute Musik und noch ein paar Bier, dann ginge es ihr bald besser. Dann bin ich wieder ganz die Alte, dachte sie.
Als wäre das möglich,
meldete sich eine skeptische Stimme in ihrem Kopf.
Julie runzelte die Stirn. Okay, wahrscheinlich würde es nicht funktionieren, aber sich verrückt zu machen brachte erst recht nichts. Vielmehr musste sie überlegen, was sie als Nächstes tun wollte.
Menschen hatte Julie bislang immer in zwei Typen eingeteilt: solche, die durch die Windschutzscheibe sehen, und solche, die in den Rückspiegel starren. Sie selbst hatte stets der ersten Kategorie angehört. Nicht die Vergangenheit zählt, sondern die Zukunft, weil nur sie noch zu gestalten ist. Mom wirft mich raus?
Muss was zu essen auftreiben und einen Platz zum Schlafen finden.
Ehemann stirbt?
Muss normal weiterleben, sonst werde ich verrückt.
Ein Typ stellt mir heimlich nach?
Muss mir überlegen, wie ich das beenden kann.
Julie Barenson ist eine Frau, die die Dinge selbst in die Hand nimmt, dachte sie, während sie neben Mike im Auto saß.
Das wirkte einen Moment lang, dann ließ sie mutlos die Schultern sinken. Diesmal würde es nicht so leicht werden. So tapfer sie sich auch geben mochte, sie
hatte
Angst, mehr Angst als damals, als sie auf der Straße lebte. Dort war es ihr gelungen, sich unsichtbar zu machen – Überleben durch Verstecken, hatte sie es genannt. Allerdings war das nahezu das Gegenteil zu ihrer derzeitigen Situation. Das Problem bestand im Moment darin, dass sie allzu sichtbar war, und dagegen konnte sie nichts unternehmen.
Als Mike vor seinem Haus parkte, sah sich Julie unwillkürlich um und lauschte auf verdächtige Geräusche.
Ihre Nerven lagen blank. Was wollte Richard? Was würde er als Nächstes tun? Kurz malte sie sich aus,
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