Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Vorbilder zur Orientierung und eine verlässliche Gemeinschaft, in der sie Sicherheit und Vertrauen finden? Wo finden sie zwischen Sprach- und Bewegungsförderung auch einen Dialog und Hinwendung zu ihren kindlichen Bedürfnissen?
Was dadurch zunehmend verloren geht, nicht nur in unserem Betreuungssystem, auch in den Familien, ist die Zeit und die Möglichkeit für Betreuer oder Eltern und Kinder, sich gemeinsam mit etwas zu beschäftigen. Die Möglichkeit, sich im gemeinsamen Tun und als Gruppe zu erleben. Damit sind kleine Aktivitäten wie gemeinsam den Tisch zu decken, zusammen ein Buch zu lesen genauso gemeint wie zum Beispiel ein Baumhaus zu bauen. Ein richtiges gemeinsames Projekt. Ein Erlebnis, eine Erfahrung, bei der alle Beteiligten bestimmte Rollen einnehmen. Spüren, dass sie verbunden mit anderen sind, dazugehören, aber andererseits auch in dieser Verbundenheit eine Autonomie besitzen und etwas zum gemeinsamen Gelingen beitragen. Dies ist eine wesentliche Beziehungserfahrung für Kinder. Nur durch dieses »Wir machen es zusammen«, das nicht zielgerichtet auf Förderung, sondern auf ein Miteinander angelegt ist, erfahren Kinder sowohl Beziehung als auch das Glück, wie es ist, wenn ihnen gemeinsam mit anderen etwas gelingt.
Kinder brauchen Menschen, die sich ihnen zuwenden. Kinder brauchen stabile Beziehungen, um zu lernen, um sich zu entwickeln. Dialog und Austausch brauchen Zeit. Zeit, die wir uns fast vollständig und an vielen Stellen wegorganisiert haben.
Normiert oder normal? Kindheit heute
Während staatliche Einrichtungen – ob Kita oder Schule – hinsichtlich ihrer Qualität (leider) nur geringen Kontrollen unterliegen, haben wir für unsere Kinder in den letzten Jahren immer mehr Instrumente und Maßnahmen erfunden, um sie und ihre Entwicklung zu kontrollieren und vor allem zu normieren. Dies alles mit dem Ziel, die Entwicklung zu optimieren und – sollte es notwendig werden – den sogenannten (und stets befürchteten) Fehlentwicklungen zügig und effektiv entgegenzuwirken. Regelmäßige U-Untersuchungen bei Kinderärzten, Entwicklungsberichte und Einschulungstests sind schon lange Pflicht für alle Kinder.
Aber selbst das reicht nicht mehr. Wir wollen es noch genauer wissen, und so hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass sich alle Kinder auf die gleiche Art und Weise und im gleichen Tempo entwickeln sollen. Also wurden Tabellen mit Entwicklungskurven angelegt, sodass sich jedes Kind dem Vergleich mit den Altersgenossen stellen muss. Hinzugekommen sind in den letzten Jahren zahlreiche weitere Arbeitsmittel wie Beobachtungsbogen und Teilleistungstests, mit denen schon im Kindergarten kleine Abweichungen von »normalen« Entwicklungsprozessen erfasst werden sollen.
Kinder werden getestet und eingeordnet: in leistungsstarke und leistungsschwache Kinder, in entwicklungsgerechte und entwicklungsverzögerte Kinder, in Kinder mit angemessenem Verhalten und Kinder mit auffälligem Verhalten. Sie werden nach bestimmten Standards und nach von uns gesetzten Normen eingeteilt und bewertet – und stigmatisiert. Ein Kind, das in die Schule kommt und als leistungsschwaches, entwicklungsverzögertes Kind – vielleicht noch mit auffälligem Verhalten – eingestuft wird, hat eine dicke Akte, in der alle Defizite dokumentiert sind: Das Kind
… ist verträumt,
… kann sich nicht gut konzentrieren,
… reagiert auf Ansprache verzögert,
… zeigt mangelndes Selbstbewusstsein,
… verfügt nur über eine geringe Frustrationstoleranz,
… zeigt Aggressivität –
um nur einige typische Zuschreibungen zu nennen.
Je mehr das Verhalten eines Kindes den Ablauf einer Bastelgruppe in der Kita oder der Mathematikstunde in der Schule stört oder die Vermittlung der entsprechenden Lerninhalte in der Gruppe »behindert«, als desto auffälliger wird es wahrgenommen. Unsere Vorstellung von dem, was wir heute als »normal entwickelt« verstehen, wird durch eine solche Normierung immer schmaler und enger. So sind wir nun mit diesen eigens geschaffenen Instrumenten auf der Suche nach »Muster- und Schablonenkindern«.
Wir sprechen vor allem über Kinder, wir beobachten, testen, bewerten und ordnen sie ein. Es geht um quantitativ und qualitativ messbare Zielerreichung; testen und normieren sind die Instrumente, mit denen Institutionen ihre Arbeit rechtfertigen und deren Qualität messen. Einer Qualität, die sich in Kennzahlen und Kurven ausdrücken lässt. Bildung hat sich in Richtung Überprüfbarkeit
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