Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Eltern dankbar angenommen. Die Programme lesen sich wie Fortbildungsseminare für Erwachsene, sie reichen von Fremdsprachen über Kurse für Astronomie (für Zweijährige) bis zum Training der freien Rede. »Viel hilft viel, schaden kann es jedenfalls nichts«, scheint hier die Devise zu lauten. Ist das so?
Dieser Förderungswahn von Eltern wird nachvollziehbar, wenn man auf die Beschleunigungstendenzen unserer Gesellschaft schaut. Schneller, höher, weiter, besser! Das ist das Motto. Es herrscht die Vorstellung, dass es gut und effizient für Kinder und unsere Gesellschaft sei, in immer kürzerer Zeit immer mehr Wissen noch früher zu vermitteln. Folge sind Reformen, die immer frühere Einschulungen und verkürzte Schulzeiten vorsehen. Das alles bei einem straffen inhaltlichen Lehrplan. Die noch in der Reifung vermuteten Ressourcen des kindlichen Gehirns sollen möglichst früh und optimal genutzt werden. Dass diese Sicht auf das menschliche Gehirn überholt ist und die aktuelle Gehirnforschung ganz neue Erkenntnisse bereithält, geht in dieser Debatte erstaunlicherweise völlig unter.
Tatsächlich geht die Hirnforschung mittlerweile davon aus, dass das menschliche Gehirn gar nicht als Ansammlung von Ressourcen beschrieben werden kann, die man möglichst frühzeitig nutzen muss, damit sie nicht irgendwann verfallen. Vielmehr weiß man heute, dass das Gehirn Potenziale nutzt, und zwar solche, die man beständig – bis ins hohe Alter – immer wieder neu entfalten und ausbilden kann. Das Gehirn ist etwas Dynamisches. Um Fähigkeiten oder Wissen zu erwerben, braucht es keinen »Speicherplatz« – der daher auch nicht möglichst früh mit Wissen gefüllt werden muss. Auch das ist ein altes Bild.
Wenn das so ist, kann man sich jedoch die Frage stellen: Was haben Kinder tatsächlich davon, wenn sie früh gefördert, beispielsweise schon im Kleinkindalter in Englischkurse geschickt werden? Es ist vielleicht nicht schädlich – aber so wirklich nützlich ist es auch nicht. Vielleicht werden Kinder ein paar Vokabeln verstehen und auch behalten. Solange der Lerninhalt jedoch nicht bedeutsam für die Kinder selbst ist, wird er nicht entsprechend abgespeichert. Kinder etwa, die zweisprachig aufwachsen, haben eine emotionale Beziehung zu beiden Elternteilen. Die Eltern sprechen unterschiedliche Sprachen und haben ihre jeweils eigene Kommunikation mit dem Kind. Durch diese emotionale Beziehung zum Vater oder der Mutter bekommt die Sprache für das Kind eine hohe Bedeutung. Das Kind lernt nicht die Sprache (es lernt sie auch ), sondern kommuniziert vor allem mit den Eltern in einer für es bedeutsamen Beziehung, einer Liebesbeziehung.
Auch durch staatliche Vorgaben zur frühkindlichen Bildung wird die Kindheit zunehmend (vor-)programmiert. Frühkindliche Lernprogramme wie Sprach- oder Bewegungsförderung gehören zum Kitaalltag und geben Aktivitäten und Übungen vor. In manchen Einrichtungen gibt es Wochenpläne, die so durchstrukturiert sind, dass kaum Zeit für freies Spiel bleibt. Spricht man mit ErzieherInnen, dann wird deutlich, dass auch sie diese Entwicklung mit Sorge betrachten. Zu wenig Spielraum bleibt für Vielfalt und individuelle Entwicklung der Kinder. Doch auch ErzieherInnen geraten zunehmend unter Druck und können aus diesen vorgegebenen Abläufen nicht ausbrechen: Sie sollen fördern, strukturieren, frühkindliche Bildung vermitteln und die Kinder »fit für die Schule« machen.
Zusätzlich verschärft wird die Situation dadurch, dass das Schuleintrittsalter in vielen Bundesländern immer weiter vorverlegt worden ist, sodass auch Kinder, die das sechste Lebensjahr noch nicht vollendet haben, bereits mit dem Schulbesuch beginnen. Kinder werden so durch alle diese Maßnahmen immer früher in unsere sich beständig schneller drehende Welt hineingesogen – und manche gehen im Strudel dieser Anforderungen unter.
Wir selbst sind es, die für unsere Kinder Orte schaffen, an denen die kindlichen Bedürfnisse (zum Beispiel nach Bewegung oder auch beständigen, stabilen Beziehungen) immer weniger Berücksichtigung finden. Angesichts dessen ist es doch nicht verwunderlich, dass wir Kinder vermehrt als verhaltensauffällig wahrnehmen! Aber sind sie es wirklich? Oder zeigen sie nicht sogar ganz normale, gesunde Reaktionen darauf, dass sie der Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses beraubt werden? An welcher Stelle in unserer Gesellschaft können Kinder an einer Aufgabe wachsen, wo finden sie konstruktive
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