Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
stört. Die Lehrer haben ihr Urteil gefällt: Oskar ist verhaltensauffällig, er ist ein »Problemkind«!
Vielen Kindern geht es heute wie Oskar. Gilt ein Kind in der Schule als auffällig, sind sich alle Erwachsenen schnell einig. Und obwohl renommierte Fachleute wie der Schweizer Kinderarzt und Buchautor Remo Largo immer wieder davor warnen, Kinder zu »verpathologisieren«, scheint die Toleranz der Umwelt selbst bei kleinen Abweichungen von der Norm extrem gering. Für die Praxen von Kinder- und Jugendpsychiatern ist diese Entwicklung nichts Negatives. Mittlerweile haben sich viele dieser Praxen enorm vergrößert und übernehmen über ihre ärztliche »Kernaufgabe« hinaus zusätzliche Aufgaben. Sie arbeiten inzwischen interdisziplinär und sind mit verschiedenen anderen Bereichen vernetzt. Neben ambulanter Erziehungsberatung bieten sie häufig auch vielfältige Therapiemöglichkeiten für die kleinen Patienten an. Die Zahl der Kinder, die heute in ihrem Verhalten problematisiert und pathologisiert werden – etwa mit der Diagnose ADHS – und dadurch in einen Teufelskreis von Stigmatisierung und therapeutischen Maßnahmen geraten, ist besorgniserregend angestiegen.
Vor Jahren ist die Störung »Attention Deficit Hyperactivity Disorder« (»Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung«, kurz ADHS) in das von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegebene Verzeichnis der psychischen Erkrankungen (ICD-10) aufgenommen worden. Seitdem werden die sogenannten ADHS-Kinder medikamentös behandelt. Sie gelten als hyperkinetisch und aufmerksamkeitsgestört und fallen vor allem in der Schule dadurch auf, dass sie Abläufe stören, Aufgaben nicht oder nicht in der vorgegebenen Zeit erledigen können. So werden ihnen Medikamente verabreicht, die teilweise unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, weil sie Stoffe enthalten, die als Psychostimulanzien bezeichnet werden.
Abgesehen von den starken Nebenwirkungen (unter anderem Schlafstörungen und Appetitmangel) der medikamentösen Behandlung – bis heute sind keine Studien bekannt, welche die Langzeitsicherheit und Wirksamkeit etwa von Methylphenidat, dem Inhaltsstoff des meistverschriebenen Medikaments Ritalin, schlüssig belegen (so die Europäische Arzneimittelkommission 2009). Offiziell sind deshalb Medikamente, die Methylphenidat enthalten, seit 2010 nur noch eingeschränkt zugelassen.
Dennoch nimmt die Zahl der ADHS-Diagnosen in einem höchst bedenklichen Ausmaß zu; der UN-Drogenkontrollbehörde zufolge werden heute weltweit geschätzte zehn Millionen Kinder und Jugendliche mit Psychophamarka behandelt. Auch der 13. Gesundheitsbericht der Bundesregierung setzt sich mit dem kontinuierlichen Anstieg der Medikamentenverschreibungen auseinander. So vermutet die Kommission eine zu leichtfertige Vergabe der Psychostimulanzien.
Aber wie konnte es zu diesen inflationären ADHS-Diagnosen kommen? Und welche Interessen stehen dahinter? Der Arzt und Pharmakologe Peter Schönhöfer macht in diesem Zusammenhang auf entsprechende Vermarktungsstrategien der Pharmaindustrie aufmerksam. Neurologen, Pharmakologen und Pädagogen warnen angesichts der Risiken (mögliche Schädigungen der Plastizität des kindlichen Gehirns, Gefahr von psychischer und physischer Abhängigkeit der Patienten) vor der Vergabe dieser Medikamente. Die Interessenvertreter der Pharmaindustrie und die verschreibenden Ärzte scheinen davon unbeeindruckt. Insgesamt bleibt eine breite Fachdiskussion aus; Eltern werden nicht umfassend aufgeklärt und können daher nicht erkennen, was Kindern hier seit Jahren zugemutet wird, um sie für unsere Gesellschaft »passend« zu machen.
Vieles deutet für mich darauf hin, dass sich nicht die Kinder in den letzten Jahren plötzlich verändert haben (und immer verhaltensgestörter geworden sind), sondern dass sich unser Blick auf die Kinder verändert hat. Und mit der Angst der Eltern vor dem Versagen ihrer Kinder lässt sich trefflich Geld verdienen. Das Angebot dieser »Industrie« reicht von einer Fülle von (ernst zu nehmenden) funktionalen Therapien wie der Lern- und Ergotherapie, Psychomotorikgruppen, der Logopädie bei Sprachstörungen und einer Vielzahl anderer therapeutischer Verfahren wie Kunst- oder Musiktherapie bis hin zu privaten Nachhilfeinstitutionen, die mit Slogans wie »Fünf weg, sonst Geld zurück« wie für eine Diät werben.
Es geht nicht darum, einzelne Fördermaßnahmen oder Therapieverfahren in ihrer Wirksamkeit grundsätzlich infrage zu
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