Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
optimiert, hier haben die Experten ihre Zahlenwelt in die Kindheit getragen, ohne auch nur im Ansatz zu begreifen, was tatsächlich die Welt der Kinder ausmacht.
Eine glückliche Kindheit ist nicht in dieser Form messbar, Motivation zum erfolgreichen Lernen nicht normierbar und Spielen, Kreativität, Emotionalität und Empathie – das lebendige entwicklungssensitive Ich – sind nicht beliebig reproduzierbar. Konzipiert wurde eine effiziente Fertigungsstraße für leistungsfähige Gehirne, die wir als Ressource nutzen wollen. Wir übersehen dabei, was das kindliche Gehirn tatsächlich ist: ein Ort der Potenziale. Wir müssen nichts in das Gehirn einfüllen, wir müssen vielmehr die geeignete Umgebung für eine möglichst gute Entfaltung der Potenziale schaffen. Eine Umgebung, die anregt, Lust macht und einlädt. Eine Umgebung, die begeistert, beeindruckt und Kinder ermutigt. Kein Wunder, dass hier die Fertigungsstraße zur Einbahnstraße wird und sich die darin umherwuselnden, »inkompatiblen« Kinder hoffnungslos verstricken.
Auch die Atmosphäre, die Stimmung, ein bestimmter Geist sind notwendig und gehören zu der Umgebung, die wir für Kinder bereitstellen. Wie ist diese Atmosphäre? Ist sie geprägt von Sicherheit und Vertrauen? Das ist nicht mein Eindruck, und es entspricht auch in aller Regel nicht der Realität. Denn wir sprechen nicht oder viel zu selten mit den Kindern, wir interessieren uns nicht für ihre individuelle Entwicklung und reagieren nicht auf die Kinder selbst, wir gehen nicht in einen persönlichen Dialog.
Die andauernden Tests geben den Prüfern Gelegenheit, Druck aufzubauen. Da kommt noch ein Test, eine Zwischenhürde, auf die hin zielgerichtet Stoff und Kompetenzen abgefragt werden können. Prüfungen geben den Prüfern Macht jenseits pädagogischen Könnens. Die Verantwortung für das Erreichen des Ziels wird allein dem Kind übertragen, denn wenn viele es schaffen, liegt es doch an dem, der es nicht schafft. Dabei brauchen das Begreifen und Verstehen eine druckfreie Beziehung, eine lernfreundliche Atmosphäre – die durch die ständigen Überprüfungen abgeschafft wurde.
Stattdessen ist die Atmosphäre vor allem von Angst, Unsicherheit und Anpassung geprägt. »Passe ich rein, bin ich normal?« – »Bestehe ich den Test?« – »Bin ich o. k., so wie ich bin?« Eigentlich nicht. Oft genug erfahren Kinder nicht nur zwischen den Zeilen die Botschaft: »Du bist nur o. k., so wie wir wollen!«
Verhaltensauffällig oder unangepasst? Kinder unter Beobachtung
Für alles gibt es mittlerweile eine Pille und für jeden eine passende Therapie. Für Kinder, die mit dem überbordenden Bildungs- und Förderungsangebot nicht zurechtkommen, für Kinder, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht entsprechend anpassen, die in unserem staatlichen System nicht lernen (können) oder sich nicht so entwickeln (können), wie wir es für notwendig erachten, und die dann »auffällig« werden, führt der Weg zwangsläufig zu testpsychologischen Untersuchungen beim Kinder- und Jugendpsychiater.
Rund 50 Prozent der Schulkinder haben laut einer 2010 vom Forsa-Institut im Auftrag der Techniker Krankenkasse durchgeführten Umfrage bereits eine Therapie gemacht. Was sind das für Kinder, die zum Teil schon im Grundschulalter als therapiebedürftig gelten?
Oskar ist in der dritten Klasse. Er kommt oft zu spät zur Schule. Die Lehrerin ärgert sich darüber. Die Kinder sollen Pünktlichkeit lernen und sich an die vorgegebenen Regeln halten. Manchmal schaut sie ihn nur strafend an, manchmal stellt sie ihn auch wütend zur Rede: »Was ist nur los mit dir, Oskar?« Oskar zuckt mit den Schultern – er traut sich mittlerweile nicht mehr zu sagen, dass er verschlafen oder den Bus verpasst hat –, weiß dann lieber keine Antwort und muss zwar nachsitzen, erspart sich aber eine Predigt der Lehrerin. Auch seine Hausaufgaben erledigt Oskar häufig nicht. Die Lehrerin hat ihm immer wieder erklärt, wie wichtig die Hausaufgaben sind, hat überprüft, dass er alles in seinem Heft notiert, und Oskar mitgeteilt, dass er – sollte er sie wieder vergessen – eine Sechs bekommt. Oskar kann sich zudem schlecht konzentrieren, auch das Einfügen in die Klassengemeinschaft fällt ihm schwer. Er wird schnell laut, tritt und haut bei Konflikten seine Mitschüler, immer wieder hat er Wutanfälle. Bald lassen ihn die Mitschüler nicht mehr mitspielen, grenzen ihn aus. Oskar reagiert darauf, indem er das Spiel der anderen
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